© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/11 11. März 2011

Endlich mehr als ein geographischer Begriff
Mit Raffinesse und Hartnäckigkeit gelang vor 150 Jahren die Gründung des Königreiches Italien im Windschatten europäischer Konflikte
Thomas Bachmann

Es soll um 1513 gewesen sein, als Niccolò Machiavelli sein erst postum veröffentlichtes Traktat „Der Fürst“ mit dem flammenden Aufruf beschloß, Italien von den Barbaren zu befreien. Die Umstände, daß ein „kluger und tapferer Mann“ die Neugestaltung des Landes in diesem Sinne betreibe, seien, so seine Analyse, so günstig wie noch nie. Allerdings waren sie wohl nicht günstig genug. Ganze dreieinhalb weitere Jahrhunderte mußten verstreichen, bis Machiavellis Landsleute von sich behaupten durften, sein Programm erfüllt zu haben.

Viktor Emanuel II., der am 17. März 1861 vom in Turin versammelten Parlament des neuen Reiches zum König von Italien erklärt wurde, entsprach allerdings nur wenig dem bis heute als warnendes Beispiel für die Unversöhnlichkeit von Politik und Moral präsenten Bild des Fürsten, das der Florentiner gezeichnet hatte. Eher wird ihm schon sein langjähriger „erster Diener“ Camillo Benso Graf von Cavour gerecht, der die italienische Einigung mit der gleichen Raffinesse, wenn auch wohl mit größerer Leidenschaft betrieb als Bismarck die kleindeutsche. Auch gelang die Gründung des Nationalstaates nicht aus eigener Kraft. Sie bedurfte der maßgeblichen Mitwirkung der von Machiavelli gescholtenen Barbaren. Immerhin waren es aber nicht jene der übelsten Sorte aus deutschen Landen, sondern die romanischen Anverwandten aus Frankreich, die die vom Wiener Kongreß auf der Apenninenhalbinsel hinterlassene Machtbalance aus den Angeln hoben.

Die politische Landkarte Italiens nach 1815 wies im Norden die Lombardei und Venetien als integrale Bestandteile des Habsburgerreiches aus. Nach Südwesten hin schloß sich ein Glacis aus Fürstentümern an, die in die Hände von Nebenlinien des Wiener Herrscherhauses gelegt waren. Die Romagna, die Marken, Umbrien und Latium mitsamt Rom unterstanden dem weltlichen Regiment des Papstes, dessen Kirchenstaat alle Säkularisierungstendenzen überdauert hatte.

Im Süden Italiens herrschten die Bourbonen von Neapel aus über das Königreich beider Sizilien, ihr neuabsolutistisches Staatsverständnis galt selbst den Protagonisten der zeitgenössischen Restauration als reaktionär. Wirtschaftlich unterentwickelt sowie durch beständige Separationsbestrebungen Siziliens und anarchische Apathie selbst der Eliten geschwächt, konnte auch hier kein Nukleus für eine italienische Einigung heranreifen. Diese Aufgabe fiel als unverhoffte Konsequenz der kriegerischen Wirren der Jahre 1848/49 dem Konigreich Sardinien zu, dessen Herrscher aus dem Hause Savoyen auf dem Festland in der piemontesischen Metropole Turin residierten.

In der Gemengelage aus Fremdherrschaft, dynastischen Eigeninteressen und weltanschaulich-religiöser Sonderrolle des Kirchenstaates mußte die Hoffnung, Freiheit und Einheit ließen sich für Italien „von oben“ auf dem Wege des Kompromisses zwischen den Regierenden der einzelnen Staatsgebilde erreichen, jedoch lange als illusionär erscheinen. Die Alternative, über eine revolutionäre Veränderung die Einheit der Nation in einer Demokratie herbeizuführen, durfte zwar als ebensowenig praktikabel angesehen werden, basierte aber immerhin auf einer nüchternen Lagebeurteilung. Verkörpert wurde diese Alternative insbesondere durch Giuseppe Mazzini. Der in Genua geborene Publizist und Berufsrevolutionär hatte zunächst den geheimbündlerischen Carbonari angehört, die ihm jedoch mit ihrem individualistischen Liberalismus und vor allem ihrer putschistischen Strategie als nicht mehr zeitgemäß erschienen. Die von ihm begründete Bewegung „Junges Italien“ sollte stattdessen die breiten Volksmassen für das Ziel einer nationalen Republik entfesseln, vornehmlich durch Agitation und lokale Verschwörungen, die zu Aufständen auswüchsen.

Allerdings erforderten auch seine umstürzlerischen Bemühungen Konspiration, und mit seinen Ideen ließ sich nur eine kleine, gebildete Minderheit vertraut machen. Das Dilemma, volkstümlich werden zu wollen und doch elitär bleiben zu müssen, blieb für Mazzini unauflöslich. Nur ein einziges Mal, in der kurzlebigen römischen Republik von 1849, gelang es ihm, die Fäden der Politik in der Hand zu halten. Das Intermezzo beendete eine französische Militärexpedition, die einen auf Wunsch des Papstes ergangenen Interventionsbeschluß der europäischen Ordnungsmächte allen anderen eifrig zuvorkommend umsetzte.

Mazzinis Rolle in der italienischen Einigung ist aber immerhin die eines Damoklesschwertes, dessen sich Graf von Cavour bedienen konnte. Mit der glaubwürdigen Drohung, daß die Alternative eine demokratische Revolution wäre, ließ sich die von Sardinien-Piemont betriebene Errichtung eines Nationalstaates auch dann noch als moderat darstellen, wenn sie über getroffene Vereinbarungen hinweggehend vollendete Tatsachen schuf.

Die unter Cavours Federführung ab 1850 betriebenen politischen und ökonomischen Reformen sowie der Ausbau der Infrastruktur stärkten die Wirtschaftskraft des Landes und stellten damit auch dem Staat neue Mittel zum Ausbau seiner Machtstellung zur Verfügung. Dank seines geschickten Taktierens im Krimkrieg (1853–1856) gelang es ihm zudem, daß Sardinien-Piemont im Konzert der europäischen Mächte nunmehr eine kleine, aber respektierte Rolle spielte. Dies allein schuf aber lediglich Voraussetzungen für das Gelingen des Risorgimento.

Den Ausschlag gab eine durch Napoleon III. vorgenommene Neuausrichtung der französischen Außenpolitik, die sich nun plötzlich zum Mentor der italienischen Freiheit machte. Das Kalkül des Kaisers war dabei, seinem politischen Stil gemäß, so kompliziert wie ambivalent. Der Ausbruch aus Isolation und Handlungsunfähigkeit, die seinem Land durch den Wiener Kongreß auferlegt worden seien, sollte ihm durch den kühnen Schritt gelingen, sich in den Dienst des Selbstbestimmungsrechts der Völker zu stellen. Damit wähnte sich Napoleon III. in Übereinstimmung mit der Programmatik seines Onkels im Schlußakt der „Hundert Tage“.

Allerdings sollte diese Vereinnahmung des Selbstbestimmungsrechtes zugleich auch verhüten helfen, daß aus ihm unangemessen radikale Konsequenzen gezogen würden, lag es doch nicht im französischen Interesse, an der südöstlichen Flanke mit einem starken Nationalstaat einen potentiellen Rivalen entstehen zu lassen. Dem Kaiser schwebte daher eher ein italienischer Staatenbund vor, vielleicht sogar, im Sinne der „neuguelfischen“ Vision, unter dem Patronat des Papstes, ein Modell, das zudem auch die Chance bot, Ansprüche des Hauses Bonaparte auf italienische Fürstenthrone durchzusetzen. Cavour erkannte die Chancen, die das unausgegorene Konzept des Kaisers bot. Im Geheimabkommen von Plombières im Juli 1858 war er daher zu sehr weitgehenden Konzessionen bis hin zur Abtretung von Savoyen und Nizza bereit, sofern Frankreich sich nur zu dem entscheidenden Schritt entschlösse, militärischen Beistand zu leisten, wenn es an die Vertreibung der Österreicher aus Italien ginge. Die einzige Auflage des Kaisers Napoleon III., daß die Gegenseite den Krieg zu erklären hätte, war Ende April 1859 nach piemontesischen Provokationen erfüllt.

Die Kämpfe schienen mit der Doppelschlacht von Solferino und San Martino bereits zwei Monate später die Entscheidung zugunsten Italiens herbeigeführt zu haben, als Napoleon III. umschwenkte und den Österreichern im Vorfrieden von Villafranca zugestand, lediglich die bereits verlorene Lombardei abzutreten, während der italienische Status quo ansonsten unangetastet bliebe. Cavour sah seine Pläne durchkreuzt und demissionierte.

Allerdings hatte der Krieg bereits eine Dynamik entfacht, die nicht mehr zu stoppen war. Der den Vorfrieden im November 1859 bestätigende Friedensvertrag von Zürich versuchte festzuschreiben, was nicht mehr festzuschreiben war. Die mittelitalienischen Territorien widersetzten sich einer Rückkehr ihrer geflohenen Fürsten (in der Romagna des päpstlichen Legaten) und betrieben den Anschluß an Sardinien-Piemont. Nach Cavours Rückkehr ins Amt Anfang 1860 setzten „Plebiszite“ einen Schlußstrich unter die Kleinstaaterei in dieser Region. Die Abtretung Savoyens und Nizzas an Frankreich weckte zwar den Unmut der Radikalen wie auch der Konservativen. Er entlud sich aber kaum am Realpolitiker Cavour, sondern fand sein Ventil im Ausgreifen des Risorgimento nach Süden. Der „Zug der Tausend“, den Giuseppe Garibaldi mit seinen Freischärlern nach Sizilien und von dort aus nach Kalabrien unternahm, brachte die bourbonische Herrschaft zu Fall. Mit diplomatischen und militärischen Mitteln verstand es Cavour, die ihm zeitweilig entglittene Lage im Süden wieder unter Kontrolle zu bringen und nebenbei auch noch dem Kirchenstaat die Marken und Umbrien zu entreißen.

Diesem verblieb unter der Garantie Napoleons III. lediglich Latium mit der Metropole Rom. Sechs Jahre später gelang es dem Königreich Italien, im Windschatten des preußisch-österreichischen Krieges Venetien an sich zu bringen, obwohl es mit eigenen militärischen Bemühungen gescheitert war. 1870 nutzte es wiederum die Gelegenheit des Deutsch-Französischen Krieges, um in den nunmehr seiner Schutzmacht beraubten Kirchenstaat einzurücken. Rom wurde, nachdem Florenz diese Funktion 1865 vorübergehend übernommen hatte, zur Hauptstadt des Königreiches. Der daraus resultierende jahrzehntelange Konflikt mit dem Papsttum lastete ebenso auf dem neuen Nationalstaat wie seine Inbesitznahme durch eine durch ein exklusives Wahlrecht geschützte Oligarchie.

Foto: Die Väter der Einigung, Italiens König Vittorio Emanuele II, Giuseppe Garibaldi, Giuseppe Mazzini und Camillo Benso Graf von Cavour (v.l.n.r.): Vision war lange illusionär

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