© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/11 11. März 2011

Jedermann ist heute ein offenes Buch
Nicht nur Geheimdienste sind heute in der Lage, zwecks Datenkontrolle die totale Überwachung über die Bürger auszuüben
Sandro Henschel

Würden Sie dem Staat ihre Überweisungen der letzten Monate mitteilen? Oder vielleicht wohin die nächste Urlaubsreise geht? Nein? Nun, das brauchen sie auch gar nicht. Er weiß es längst schon. Die Freiheitsbeschneidungen der Bürger seit dem 11. September 2001 sind ein für demokratische Staaten bislang beispielloser Vorgang. Während Vorschläge über ein Luftsicherheitsgesetz, Biometrie in Personaldokumenten oder Vorratsdatenspeicherung von Telefon-, Mobil- und Internetdaten noch vor zehn Jahren undenkbar waren, hat sich inzwischen eine gewisse Konditionierung auf derartige Neuerungen eingestellt. Was dem Staat einst verboten war, wird von ihm heute durch Gesetz gefordert. Diese Entwicklung ist keinesfalls nur für Deutschland exemplarisch, sondern läßt sich in allen Industrienationen nachweisen.

Die Neuerscheinung „Totale Überwachung – Staat, Wirtschaft und Geheimdienste im 21. Jahrhunderts“ von Günther Weiße befaßt sich zwar weniger mit dem Freiheitsverlust des Individuums als vielmehr mit der internationalen Spionage in ihrer Gesamtheit, jedoch wird dem Leser dadurch vor allem die inzwischen weit vorangeschrittene Institutionalisierung der Überwachung vor Augen gehalten. Während Geheimdienste einst abstrakte Gebilde waren, die für die meisten Menschen zu keiner Zeit einen relevanten Einfluß auf ihr Leben hatten, sorgt ihre Vernetzung und der technische Fortschritt in den letzten Jahren für massive Einschnitte in die informationelle Selbstbestimmung eines jeden Bürgers.

Weiße verschafft dem Leser einen historisch detaillierten Abriß über die Entwicklung der Kommunikationsüberwachung in Deutschland, den meisten europäischen Staaten, den Staaten des Nahen Ostens und Asiens sowie Rußlands und der USA. Er stellt sämtliche Nachrichtendienste und ihre untergeordneten Institutionen vor und analysiert ihre Effizienz und technische Ausstattung. Aufgrund der Thematik ist diese Untersuchung zwar mit vielen Vermutungen verbunden, die aber in sich durchaus stimmig und nachvollziehbar sind.

Daß alle Nachrichtendienste, ob befreundet oder nicht, Informationen beschaffen und archivieren liegt in der Natur dieser Behörden und soll auch nicht als der Kern dieses Buches betrachtet werden. Viel wesentlicher ist dagegen die von Weiße mit Sorge betrachtete schleichende Vermischung nachrichtendienstlicher Aufgaben mit denen der inneren Sicherheit und der schon jetzt besorgniserregend hohe Grad der internationalen Vernetzung innerstaatlicher Kommunikationsüberwachung. Ob Überwachung des Zahlungsverkehres, Internetprotokollierung, Datenbanken über reisende Unruhestifter, Polizeidrohnen zur Verbrechensbekämpfung oder automatisierte Analysen von Telekommunikationsverbindungen durch den Bundesnachrichtendienst – die bedenkliche Richtung der Entwicklung ist deutlich erkennbar. Weiße macht schlüssig deutlich, daß die Möglichkeiten einer umfassenden Kontrolle der Bürger auch in Deutschland schon längst gegeben sind. Gleichzeitig geben immer mehr Bürger zusätzliche Daten durch die freiwillige Teilnahme an sozialen Netzwerken preis. Für Nachrichten- und Sicherheitsdienste ist das ein wahrer Segen, da sie diese Informationen durch verschiedene technisierte Verfahren problemlos auswerten und Verhaltensmuster erfassen können.

Obwohl Weißes sachliche und emotionslose Schreibweise lediglich eine Momentaufnahme darstellt, so kann er doch plausibel die Dimension verdeutlichen, wie die Schlinge der Überwachung immer enger den Hals der Bürger zu umschließen droht. Er kritisiert, daß die europäischen Staaten persönliche Daten ihrer Bürger unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung nur sehr nachlässig gegen ausländische Staaten verteidigen und erklärt die Hintergründe. Insbesondere den Nachrichtendiensten der USA wird schon jetzt ein umfassender Zugriff auf Finanz- und Telekommunikationsdaten sowie Reisebewegungen gewährt. Zukünftige Abkommen sollen noch weit darüber hinausgehen und könnten schon bald auch Datensätze über Wohnanschriften, Kraftfahrzeuge, Waffenbesitz oder Fingerabdrücke beinhalten. Das Wettrennen um diese Daten ist längst entbrannt, da der Einschätzung Weißes zufolge sich „unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung (…) alle Staaten für eine Vormachtstellung über Informationen auf der Welt“ rüsten.

Droht den Bürgern Europas damit also ein dystopisches Zeitalter, in dem sie immer mehr zu einem bloßen Objekt im Panoptikum der Behörden degradiert werden? Weiße würde diese Frage vermutlich bejahen, aber er sieht durchaus auch einen Hoffnungsschimmer. Der „information overload“, die Übermenge an Informationen, überfordert schon heute die damit betrauten Institutionen. Dies dürfte den Prozeß, aus Hunderten Milliarden Datensätzen die jeweils notwendigen effizient und schnell auszuwerten, erheblich erschweren.

„Totale Überwachung“ ist weniger ein Sach- als vielmehr ein Handbuch, das einen Überblick über den gegenwärtigen Stand der Nachrichtendienste und deren Wirken liefert. Dem Leser werden gut recherchierte Fakten präsentiert, die sich allerdings themenbedingt zwischen unzähligen Abkürzungen und sechshundert Fußnoten verstecken. Der Autor verlangt auf diese Weise seinen Lesern ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und Ausdauer ab, wobei der damit einhergehende Erkenntnisgewinn jedoch durchaus der Mühe wert ist.

Günther K. Weiße:   Totale Überwachung. Staat, Wirtschaft und Geheimdienste im Informationskrieg des 21. Jahrhunderts. Ares Verlag, Graz 2010, gebunden, 296 Seiten, Abbildungen, 24,90 Euro

Foto: Verräterische Abdrücke im Netz: Umfassende Kontrollmöglichkleit

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