© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/11 18. März 2011

Ende der Illusion
Japan: Disziplin trotz Dreifachkatastrophe
Albrecht Rothacher

Auch angesichts der Dreifachkatastrophe bleiben die Japaner ruhig und diszipliniert. Selbstbeherrschung auch unter größter seelischer Belastung gilt als nationale Tugend. Je härter und bedrohlicher die Lage – niemand weiß, ob das große Erdbeben von Tokio unmittelbar bevorsteht, oder ob die angeschlagenen AKWs noch halten –, desto mehr werden die Zähne zusammengebissen. Historisch wurde Japan stets von Naturkatastrophen heimgesucht: Taifune, Vulkanausbrüche, Erdrutsche, Sturmfluten, Erdbeben – und zuletzt der Zweite Weltkrieg – machten immer wieder das Lebenswerk ganzer Generationen zunichte. Und jede neue  machte sich erneut fleißig an den Wiederaufbau. „Shigatta ga nai“ – es bleibt uns nicht anderes übrig, wir können es nicht ändern – ist die ständig gebrauchte Redensart. Kein Fatalismus, sondern der Wille zum Wiederaufbau.

Dennoch hat die Illusion der Nachkriegsmoderne, mit immer aufwendigeren technischen Bauten die Häuser erdbebensicher zu machen, die Küste durch Schutzmauern vor Tsunamis zu schützen, die Berghänge mit Betonummantelungen rutschfest zu machen und Japans chronische Energieimportabhängigkeit durch Kernkraftwerke zu überwinden, hat einen schweren Schlag erlitten. Doch unterbleiben die in Europa sofort laut werdenden Schuldzuweisungen.

Im Gegenteil, es herrscht ein nationaler Schulterschluß. Man hält sich an die Anweisungen, sieht ein, daß die Bahnen erst Signalanlagen und Gleise auf Schäden überprüfen müssen, akzeptiert, daß der Autoverkehr in den Norden nur für die Bergungsdienste zugelassen ist, daß es angesichts der Energieengpässe zu Stromabschaltungen kommt, stellt sich geduldig in Lebensmittelläden an. Niemand drängt sich vor, schimpft, plündert oder wird gewalttätig.

Der Burgfrieden gilt auch für die sonst so streitsüchtige politische Klasse. Niemand versucht, wie in Deutschland, die Katastrophen zu instrumentalisieren. Eigentlich hatte Premier Naoto Kan kurz vor seinem Sturz durch die eigenen Parteifreunde seiner zerstrittenen Mitte-Rechts Sammelpartei der Demokraten gestanden. Die konservative Opposition der Liberaldemokraten verweigerte mit ihrer Mehrheit im Oberhaus die Zusammenarbeit und wollte damit Neuwahlen erzwingen.

Doch im Angesicht der Katastrophe arbeitet man jetzt einträchtig zusammen. Auch ein großes schuldenfinanziertes Notbudget wird trotz des mit 210 Prozent des Bruttoinlandproduktes völlig überschuldeten Staatshaushaltes zum Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur in Rekordzeit gemeinsam auf die Beine gestellt.

Wahrscheinlich ist der energische Kan, ein ingenieurwissenschaftlich ausgebildeter Patentanwalt, der sich als Umweltaktivist einen Namen machte und als Gesundheitsminister den Skandal um die Weitergabe Aids-verseuchter Blutkonserven an Bluterkranke aufdeckte, als Krisenmanager eine Traumbesetzung. Sofort beorderte er das gesamte Heer in die Katastrophenregion – beim Erdbeben von Kobe 1995 war dies sträflich unterblieben. Auch wurde ausländische Hilfe sofort akzeptiert. In Kobe hatte man damals noch die Spürhunde in Quarantäne gesteckt und ausländischen Ärzten die Nothilfe untersagt, weil sie keine japanischen Lizenzen hatten.

Die Frage stellt sich allerdings, ob nach der Wiederherstellung von Straßen, Brücken, Eisenbahnlinien, von Strom- und Wasserversorgung und der öffentlichen Verwaltung wieder städtisches Leben in den völlig vernichteten Hafenstädten entlang der 250 Kilometer langen Küstenlinie der Präfekturen Iwate, Tochigi und Fukushima entstehen kann. Abseits möglicher Kontaminierung sind sämtliche Industriearbeitsplätze der lokalen Zulieferbetriebe für die PKW- und Elektronikindustrie verlorengegangen.

Die Abnehmer müssen sich in kürzester Zeit nach neuen Lieferanten umschauen. Vorräte führen japanische Firmen aus Kostengründen nicht. Arbeitslosengelder werden nur wenige Monate gezahlt. Die allermeisten Häuser waren gegen Großkatastrophen nicht versichert. Die meisten Obdachlosen werden daher zu neuen Arbeitsplätzen im Süden abwandern.

 Zwar wird die Millionenstadt Sendai als Zentrum des Nordens sicher wieder entstehen, die kleinen Küstenstädte jedoch, die ohnehin wie der Rest der japanischen Provinz von der Deindustrialisierung, der Abwanderung der Jungen und der Überalterung stark betroffen sind, dürften sich nicht erholen.

Auch die Großstadt Kobe, deren Welthafen auch nach dem Wiederaufbau nur noch zu 40 Prozent ausgelastet ist, hat nach dem Verlust eines Gutteils seiner Industrie infolge des Erdbebens von 1995 mit seinen 6.400 Toten durch Abwanderungen danach weitere 100.000 Einwohner verloren.

Albrecht Rothacher ist Autor des neu erschienenen Buches „Demokratie und Herrschaft in Japan. Ein Machtkartell im Umbruch“ Iudicium Verlag, München 2010, 343 Seiten, 40 Euro

Foto: Japaner stehen für Trinkwasser an: „Wir können es nicht ändern“

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