© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/11 18. März 2011

Die Welt als Experiment
Nach der Katastrophe in Japan: Damit die Kirsche auch morgen noch blüht, bedarf es einer Allianz zwischen Mensch und Natur
Günter Zehm

Außer wüsten politischen Grabenkämpfen um „Sofort abschalten oder Laufzeit verkürzen“ löst die japanische Katastrophentrias Erdbeben & Tsunami & Kernschmelze hierzulande glücklicherweise auch feinere Diskurse aus, die zudem von heuchlerischen, wohlfeilen Mitleidsbekundungen frei sind. Noch ist Deutschlands Diskussionskultur nicht gänzlich verloren.

So denkt etwa Lorenz Jäger, ein Publizist mit engen familiären Beziehungen zu Japan, in einer Betrachtung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über eine spezifische Katastrophenmentalität der Japaner nach, welche deren Vorstellung von dem, was allgemein mit „Natur“ bezeichnet wird, tiefgehend geprägt habe und sie beispielsweise schneidend vom dem deutschen, eher „romantischen“ Naturbild scheide. Kein Japaner, erklärt Jäger, käme je auf die Idee eines grundsätzlich friedlichen Zusammenlebens der Menschen mit der Natur oder gar einer „Versöhnung“ zwischen beiden.

So etwas könne wohl nur dem Kopf eines an „anmutige“, „harmlose“ Landschaften gewöhnten deutschen Philosophen wie Ernst Bloch entspringen. Der Japaner seinerseits, jeder Japaner, betrachte die Natur als potentiellen Feind. Denn „es handelt sich dort um eine Natur, die so extrem und der Möglichkeit nach katastrophisch ist, daß ein japanischer Ernst Bloch außerhalb des Vorstellbaren liegt“.

So eindrucksvoll solche Formulierungen im ersten Moment klingen mögen, so schnell kommen freilich auch Zweifel. Waren es einst nicht gerade die Japaner, genauer: die berühmten dichtenden Hofdamen von Heian (Kyoto) vor schon über tausend Jahren, die in ihren sogenannten Kopfkissenbüchern geradezu überquollen vor Natur-, Landschafts- und Jahreszeitenpreis? Lebte Murasaki Shikibu, die wohl größte der Hofdichterinnen, außer für ihren geliebten Prinzen Genji, nicht auch und fast noch mehr für die sie umgebende blühende und lebendige Natur, als deren festen Teil und als dessen Abbild sie sich empfand?

Die früheste Form japanischer Lyrik, das Haiku, ist nichts anderes als der Versuch, sich der lebendigen Natur anzugleichen, nämlich das Wort so lange und so energisch zu verdichten, bis sich eine emphatische Einheit aus Natur und Wort herstellt. Dem mag diesseits der Literatur, bei den „naiven“ Volksbräuchen, die wahrhaft ekstatische Weise entsprechen, mit der die Japaner gewisse Jahreszeitenfeste zu feiern pflegen, zum Beispiel das Kirschblütenfest.

Allerdings wird ein Unterschied gemacht zwischen lebendiger, organischer Natur und „toter“, bloß physikalischer Natur, also zwischen Kirschblüte und Vulkan, mildem Windlüftchen zur Abendzeit und tobendem Taifun zur Unzeit. Organische, lebendige Natur und anorganische Natur sind sich – um es metaphorisch zu sagen – nichts weniger als freundlich gesinnt, im Gegenteil, die Erdgeschichte ist (aber doch keineswegs nur in den Augen der Japaner!) ein riesiger Friedhof von Tier- und Pflanzenarten, und die „Mörder“ kommen in der Regel aus der Welt des Anorganischen, der Vulkane und der Tsunamis.

Gehört auch die Atomkraft auf die Seite dieser Mörderwelt? Müssen wir sie meiden? Das fragen sich in diesen Tagen und Wochen nun auch viele Japaner, während sie sich bisher strikt geweigert haben, die horriblen, grell alarmistischen Ausstiegsrufe mitteleuropäischer, speziell deutscher „Naturschützer“ ernst zu nehmen. Wobei sie übrigens nicht Ernst Bloch als fatalen Stichwortgeber im Visier hatten, sondern immer nur Hans Jonas mit seiner „Hermeneutik der Angst“.

Jonas’ Devise war: „Laßt die Finger davon, sofern ihr nicht über mögliche Gefahrenquellen und Sicherheitsvorkehrungen genau Bescheid wißt! Keine Experimente!“ Blochs Devise ist hingegen: „Laßt uns experimentieren! Aber laßt uns nicht in schnöder kapitalistischer Maximierungsmanier gegen die Natur experimentieren, sondern mit ihr! Laßt uns die Welt als ganze, Natur und Menschen eingeschlossen, zu einem einzigen Experiment, zu einem Experimentum mundi machen!“

Blochs Lieblingsbild für die Lage der Menschheit war – Lorenz Jäger zum Trotz – dem der japanischen Katastrophenmentalität recht ähnlich. Es war die alte Sindbadgeschichte aus Tausendundeiner Nacht, wo sich Schiffbrüchige auf eine hübsche kleine Palmeninsel retten, auf der es köstliche Früchte gibt, zwitschernde Vögel, jagdbares Rehwild im Wald und einen Quell dortselbst.

Wie aber die Schiffbrüchigen ein Feuer machen, um sich an ihm zu wärmen und ein Reh zu braten – siehe da krümmt sich der Boden, und die Palmen zersplittern. Denn die Insel war der Leib eines riesigen Kraken. Jahrhundertelang hatte er über dem Meeresspiegel geruht, nun brannte das Feuer auf seinem Rücken, und er tauchte unter, „so daß alle Schiffer ertranken“.

Bloch schließt daran faszinierende Überlegungen über die „Rückseite“ der „toten, bloß anorganischen“ Phänomene an, die vielleicht doch nicht ganz so tot sind, wie wir uns das üblicherweise einbilden. Eine rote Rose, das steht schon einmal fest, ist nur so lange rote Rose, wie wir sie anblicken. Blicken wir weg, bleibt etwas ganz anderes übrig – aber was? „Eine Wellenlänge“, sagen die Physiker, „ein Photonenstoß“. Aber damit kann unsere Vorstellungskraft nichts anfangen. Ist es nicht vielleicht doch ein Walfisch? Oder ein Riesenkrake?

Jedenfalls ist die schier überwältigende Allgegenwart (noch) unbesichtigter Rückseiten kein Grund dafür, im Stile von Jonas vorab die Finger davon zu lassen. Vielmehr käme es tatsächlich darauf an, über neue, nicht allein auf  Gewalt und schnöde Überlistung angelegte Experimentalformen nachzudenken, also genau über jene von Bloch ersehnte „Allianztechnik“ zwischen Mensch und Natur, über die sich Jäger so lustig macht.

Auch die Atomwirtschaft müßte aktiv  in die Allianztechnik einbezogen werden, nicht unbedingt zu dem Zweck, damit sich die über hundert Millionen Japaner auf ihren rohstoffarmen Inseln noch einmal um hundert Millionen vermehren, aber damit weiter die Kirschen blühen und feine Mädchen schöne Haikus schreiben können.

Fotos: Vulkanausbruch im Süden der japanischen Insel Kyushu (Aufnahme vom 31. Januar 2011): Auf dem Rücken des Riesenkraken, Japanische Kirschblüte: Die Sakura (Kirschblüte) im März /April ist tief in der Kultur Japans verwurzelt. Sie steht für Schönheit und Vergänglichkeit.

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