© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/11 18. März 2011

Bis 1942 starben fast alle Gefangenen
Deutsche in der Kriegsgefangenschaft, Teil VI: In der Sowjetunion erwartete deutsche Soldaten Rechtlosigkeit, Hunger und Tod
Hans-Joachim von Leesen

Als am 22. Juni 1941 die Wehrmacht des Deutschen Reiches zum Angriff auf die UdSSR antrat, traf sie, wie von der deutschen militärischen Führung erwartet, auf riesige Truppenzusammenballungen. Offenkundig bereiteten sie sich auf einen Angriff vor. Daß die sowjetische Übermacht aber so gewaltig war, wie sich dann in den nächsten Monaten herausstellte, das war der deutschen Führung verborgen geblieben (Sowjetunion: 237 Divisionen, darunter 40 Panzerdivisionen; auf deutscher Seite: 172 Divisionen, 153 Infanterie-Divisionen, 19 Panzerdivisionen sowie 37 Divisionen der Verbündeten).

Trotzdem überraschte das Tempo das deutschen Vormarsches. In wenigen Monaten fielen der Wehrmacht in mehreren Kesselschlachten (Minsk, Kiew sowie von Wjasma und Brjansk) über 1,3 Millionen Kriegsgefangene in die Hand. Die Ursache: Hunderttausende von Rotarmisten ließen den notwendigen Kampfgeist vermissen. Divisionsweise liefen sie zu den deutschen Truppen über, so daß vor wenigen Jahren die Historikerin Ulrike Goeken-Haidl davonsprechen konnte, es habe sich um „die größte militärische Desertionsbewegung der modernen Militärgeschichte“ gehandelt.

Diesen gewaltigen Gefangenenmassen war die deutsche Seite nicht gewachsen, zumal im Herbst die Schlammperiode einsetzte, gefolgt von einem überaus hartem Winter. Zudem hatte die Rote Armee auf Befehl Stalins bei ihrem Rückzug systematisch alle Vorräte, Verkehrsverbindungen oder Kraftwerke zerstört. Die Folge war ein Massensterben unter den sowjetischen Kriegsgefangenen.

Aber auch die zunächst siegreichen deutschen Truppen erlitten erhebliche Verluste. So gerieten in den Jahren 1941 und 1942 über 175.000 deutsche Soldaten in die Gefangenschaft der sowjetischen Armeen. Da auch sie mit dem Schlamm und dem harten Winter nicht fertig wurden und zudem der rasche Vormarsch der deutschen Angreifer die Organisation der Gefangenenunterbringung verhinderte, darüber hinaus viele sowjetische Soldaten ihre Wut und Enttäuschung über ihre sich abzeichnende Niederlage an den Gefangenen ausließen und sie umbrachten, so daß die Führung sie ermahnen mußte, wenigstens einige übrig zu lassen, damit sie verhört werden konnten, überlebten nur fünf bis zehn Prozent der deutschen Soldaten ihre Gefangennahme. Man rechnet heute mit gerade einmal 6.000 Überlebenden aus den ersten beiden Kriegsjahren.

Aber auch 1943 starben sechzig bis siebzig Prozent der 220.000 gefangen genommenen deutschen Soldaten. Ein Jahr später beliefen sich die Verluste der Gefangenen immer noch auf 30 bis 40 Prozent. Erst im Jahr des sowjetischen Sieges 1945 sank die Verlustrate auf 20 bis 25 Prozent. Insgesamt schätzt man heute, daß von den 3,1 Millionen Soldaten der Wehrmacht und der Waffen- SS, die sich der Sowjetarmee ergaben, etwas über zwei Millionen überlebt haben. Mindestens 1.110.000 deutsche Soldaten gingen zugrunde. Die Spuren der etwa 25.000 Frauen des Wehrmachtgefolges – Rote-Kreuz-Schwestern, Wehrmachthelferinnen – die in die Hände der Sowjets gefallen waren, „verloren sich im Osten“, wie Franz W. Seidler in seinem Buch „Frauen unter Waffen“ schrieb.

Die Sowjetunion war die einzige europäische kriegführende Macht, die weder die Haager Landkriegsordnung 1899 bis 1907 noch das Genfer Abkommen von 1929 zum Schutz der Kriegsgefangenen anerkannt hatte. In beiden Abkommen hatten die Unterzeichnerstaaten besondere Schutzmaßnahmen für Kriegsgefangene, Verwundete und die Zivilbevölkerung vereinbart. Unmittelbar nach der bolschewistischen Revolution hatte die Sowjetregierung erklärt, das Rechtswesen sei nichts als eine „bourgeoise Einrichtung“, und alle internationale Abkommen aus der Zarenzeit für die Sowjetunion als nicht bindend deklariert.

So reagierte die Moskauer Regierung folgerichtig, als ihr das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) unmittelbar nach Kriegsbeginn vorschlug, Einrichtungen zu treffen, um gegenseitig die Namen der Kriegsgefangenen auszutauschen. Formal stellte sie in Aussicht, Verhandlungen darüber unter der Bedingung der Gegenseitigkeit aufzunehmen. Die „Wissenschaftliche Kommission für deutsche Kriegsgefangenengeschichte“ unter der Leitung von Erich Maschke veröffentlichte 1966 in ihrer umfangreichen Dokumentation über die Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen den gesamten Schriftwechsel zwischen dem IKRK und der UdSSR. Danach zögerte der Kreml jede konkrete Abmachung hinaus, um schließlich die Verhandlungen versickern zu lassen.

So hatten die Regierungen Deutschlands, Italiens, Ungarns und Finnlands bereits Listen der in ihrer Hand befindlichen sowjetischen Gefangenen dem IKRK übergeben, damit sie weiter gegeben werden können, wenn die Sowjet-union gleiches in die Wege leitete, doch wartete das Komitee darauf vergeblich. Als dann bekannt wurde, daß Stalin angekündigt hatte, die Angehörigen von Kriegsgefangenen, die er zu Landesverrätern erklärte, zur Rechenschaft zu ziehen, war damit diese Aktion vom Tisch.

Als das IKRK vorschlug, sie wolle Kommissionen zu den Kriegsgefangenenlagern in der Sowjetunion entsenden, damit es gegebenenfalls Hilfsmaßnahmen einleiten könne, reagierte Moskau nicht. Nach der Kapitulation der Wehrmacht 1945 traf die Sowjetarmee in Berlin auf dort tätig gewesene Mitglieder des Internationalen Roten Kreuzes. Man nahm sie gefangen und deportierte sie in die UdSSR.

Foto: Wehrmachtssoldaten gehen 1941 vor Moskau in Gefangenschaft: Anfangs Überlebenschance gegen null

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