© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/11 18. März 2011

Die Blaupause für das System Massenmord
Mit der Niederschlagung des Kronstädter Matrosenaufstands im März 1921 offenbarte die Sowjetdiktatur die Verlogenheit ihrer sozialistischen Propaganda
Jörg Bernhard Bilke

Der Aufstand 1921 der Matrosen von Kronstadt gegen die Herrschaft von Lenin und Trotzki in der russischen Hauptstadt Petersburg war mehr als nur eine lokale Erhebung gegen die Willkür subalterner Funktionäre. Was hier nach dem Bürgerkrieg von der Führung der Kommunistischen Partei gegen die aufbegehrende Bevölkerung exekutiert wurde, lief nach einem Aktionsmuster ab, mit dem fortan alle Aufstände in der Sowjetunion wie nach 1945 im Ostblock überhaupt niedergeschlagen und im Blut erstickt wurden, vom Aufstand des 17. Juni 1953 über den Ungarnaufstand 1956 bis zum „Prager Frühling“ 1968.

Rußland war um die Jahreswende 1920/1921 ausgeblutet und ausgehungert. Die kriegsmüde Bevölkerung war höchst unzufrieden mit ihrer immer aussichtsloser werdenden Situation, was sich allein auf dem Lande in 118 Bauernaufständen äußerte. Die Unruhe bemächtigte sich auch der „Baltischen Flotte“, die in Kronstadt, auf einer vorgelagerten Insel im Finnischen Meerbusen, stationiert war und deren Angehörige aus dem Aufstand gegen den Zarismus 1905/06 über revolutionäre Erfahrung verfügten.

Die „roten Matrosen“ von Kronstadt hatten die Sowjetmacht seit 1917 unterstützt, jetzt mußten sie ohnmächtig mitansehen, wie Nahrungsmittel requiriert und oppositionelle Regungen harsch verfolgt wurden. Allein in Kronstadt, der „Hochburg der Revolution“, traten im Januar 1921 aus Protest gegen die bolschewistische Politik 5.000 Matrosen aus der Partei aus. Als am 24. Februar in Petersburg ein Streik ausbrach, solidarisierten sich die Besatzungen der Kriegsschiffe „Petropawlowsk“ und „Sewastopol“ mit den um ihre Rechte kämpfenden Arbeitern und schickten am 1. März eine Delegation nach Petersburg, die freilich sofort verhaftet wurde und spurlos verschwand. Am 2. März wurde den Kronstädtern von Lenin und Trotzki „Meuterei“ vorgeworfen, am 4. März sprachen sie von einer „gegenrevolutionären Erhebung“, am 5. März folgte Trotzkis Ultimatum, sich zu unterwerfen. Zwei Tage später wurde ohne Rücksicht auf die Bevölkerung die Stadt mit Artillerie beschossen. Am 16. März schließlich wurde Kronstadt zur See von drei Seiten angegriffen, am 17. März bekam der Befehlshaber der Roten Armee die Vollmacht, „die meuternde Stadt zu reinigen“. Das erfolgte so gründlich, daß nächtelang Massenerschießungen stattfanden. Selbst Gefangene, die schon in Gefängnisse eingeliefert waren, um abgeurteilt zu werden, wurden exekutiert.

Dabei gingen die Forderungen der Aufständischen kaum über Existenzielles hinaus. Dennoch wurden die darbenden Arbeiter und Matrosen als „Verräter der Revolution“ beschimpft und die spärlichen Essenrationen entzogen, was zu vielfachem Hungertod in Kronstadt führte. Was Lenin und Trotzki hier vorführten, war „lediglich“ eine Vorform dessen, was Josef Stalin 1929/30 mit den drei Millionen russischen Großbauern anrichtete, die „als Klasse ausgerottet“ werden sollten. Ein halbe Million von ihnen wurde erschossen, der Rest nach Sibirien „umgesiedelt“ oder nach Beschlagnahme ihrer Getreideernten dem Hungertod ausgeliefert.

Diese tödliche Spannung zwischen den Arbeitern und ihren berechtigten Forderungen und den angeblichen Arbeitervertretern, der neuen Kaste der Parteifunktionäre, der „Nomenklatura“, denen das Schicksal der Arbeiter höchst gleichgültig war und die mit allen Mitteln um die Erhaltung ihrer Machtpositionen kämpfte, auch mit tausendfachem Mord, zieht sich seit 1921 durch die Geschichte der Sowjetunion bis zu ihrem schmählichen Ende im Dezember 1991.

In seinem „Tagebuch aus der russischen Revolution 1920–1922“, das unter dem Titel „Der bolschewistische Mythos“ (1925) erschienen ist, beschrieb Alexander Berkman den Untergang des Kronstädter Aufstands: „7. März – Kronstadt wird angegriffen! Tage des Schmerzes unter Kanonendonner! Mein Herz ist vor Verzweiflung wie betäubt, etwas in mir ist abgestorben (...) 17. März – Heute ist Kronstadt gefallen. Tausende von Matrosen und Arbeitern liegen dort tot in den Straßen. Massenhinrichtungen von Gefangenen und Geiseln gehen weiter (...) 18. März – Die Sieger feiern den Jahrestag der Pariser Kommune von 1871. Trotzki und Sinowjew verurteilen Thiers und Gallifet für das Massaker an den Pariser Aufständischen...“

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