© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/11 25. März 2011

CD: Caldara
Wiener Kaiserstil
von Jens Knorr

Hatte Adorno einst der Oper die Schallplatte als letztes Residuum prophezeit, so scheint sich seine Prophezeiung für alle mitteleuropäische aufgeschriebene Musik, die wir die „ernste“ oder „klassische“ nennen, erfüllt zu haben. Der Tonträger bereitet nicht länger ein Konzerterlebnis vor oder läßt es über sein Ende hinaus nachklingen, als Ersatz, Hilfsmittel und Gedächtnisstütze für den der Noten oder eines Instruments unkundigen Hörer.

Der Tonträger hat selbst Werkcharakter erlangt, und Konzert oder Tournee bestätigen nur mehr, daß bei der Arbeit im Studio alles mit rechten Dingen zugegangen. Die jüngeren Interpreten wissen die Medien zu nutzen, ihre Alben sind von Anfang bis Ende durchdacht konzipiert, pädagogischer Eros spielt mit. So eines hat der französische Countertenor Philippe Jaroussky vorgelegt, mit dem war er, nach seinen Worten, neun Monate lang schwanger gegangen: Caldara in Wien.

Antonio Caldara, 1670 oder 1671 in Venedig geboren, kam über Mantua, Venedig, Rom nach Wien, wo er von März 1709 bis Mai 1716 Kapellmeister bei Kardinal Ruspoli war, als Nachfolger Händels übrigens, und seit 1716 Vizekapellmeister unter Johann Joseph Fux am Wiener Hof. Dem lieferte Caldara zwischen 1716 und 1736, seinem Todesjahr, 32 Opern, 23 Oratorien sowie um die 100 weitere Stücke.

Der späten Venezianischen Schule zuzuzählen, hat er die Ausbildung des neuen Kompositionsstils der Wiener Schule entscheidend beeinflußt. Doch verstand er sich notwendig als Dienstleistender, dessen Komponieren weniger auf Selbstverwirklichung denn auf das eigene Fortkommen und die Behauptung seiner Stellung bei Hofe abzielte. Und so vermögen wir in Caldara mit seinem „Kaiserstil“ nur einen Komponisten zu erkennen, dessen Erstvertonungen von Libretti seinerzeit tonangebender Dichter dem Vergleich mit einigen nachfolgenden kaum standhalten. Jaroussky hat fünfzehn Arien ausgegraben und singt sie, begleitet von dem Concerto Köln unter Emmanuelle Haïm.

Von Caldaras Vertonungen auf Libretti des Venezianers Apostolo Zeno bringt er Arien aus „Ifigenia in Aulide“ (1718), „Lucio Papirio dittatore“ (1719) sowie „Enone“ (nach Giraldi, 1730). Zeno wurde 1729 von dem Römer Pietro Trapassi abgelöst, besser bekannt unter seinem Pseudonym Antonio Pietro Metastasio. Von Metastasio bringt er Arien aus „Adriano in Siria“ (1732), „Temistocle“ (1736), „Achille in Sciro“ (1736).

Die Arien aus „L’Olimpiade“ (1733) und „La Clemenza di Tito“ (1734) reizen zu dem gewiß nicht fairen Vergleich mit Vertonungen durch ungleich Größere, Vivaldi, Hasse, Mozart, die Arie aus „Demofoonte“ (1733) zu dem mit der Vertonung durch Joseph Schuster (JF 33/03), was aber wiederum Caldara ins rechte Licht rückt.

Die Verve, mit der Philippe Jaroussky singt, macht den Hörer seine technische Virtuosität ganz vergessen, und in lyrischen Passagen ist er immer der große Überwältiger. Doch mischen sich unter die orphischen Töne ältlich verfärbte, unter die kernigen auch meckernde, insbesondere in schnellen Koloraturläufen, und verliert sich das Knabenhafte der Stimme nunmehr, ohne daß ein neuer Stimmcharakter es schon ersetzte. Stimme und Stimmführer entwickeln sich aufeinander zu.

Philippe Jaroussky, Caldara in Vienna Virgin Classics (EMI) www.emiclassics.com.de

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