© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/11 25. März 2011

Angela Merkel und die Atomkraft
Die Wendepolitikerin
von Konrad Adam

Wer Orwells „1984“ gelesen hat – und welcher Realist hätte das versäumt? –, wird sich an die Szene erinnern, in der ein Mitglied der Inneren Partei, ein ziemlich hohes Tier also, mitten in seiner Brandrede gegen den Feind von gestern die Richtung wechselt und gegen einen neuen Feind, den Bösen von heute, der gestern noch der Gute war, mobil macht.

Das alte Bündnis war zerbrochen, es gab eine neue Lage, und die verlangte nach einem neuen Gegner, den auszumachen und zu bekämpfen der allmächtigen Partei, geübt in Manövern dieser Art, nicht schwerfiel. Die Fronten mochten wechseln, wie sie wollten – die Parole, die Einigkeit nach innen und Kampfbereitschaft nach außen verlangte, blieb sich gleich: wie zum Beweis dafür, daß in der Politik zwar alles darauf ankommt, Freunde und Feinde zu haben, daß es aber fast gleichgültig und lediglich eine Frage der Zweckmäßigkeit ist, mit wem und gegen wen, für was und gegen was man ins Feld zieht. 

Ganz so weit wie jener apokalyptische Wendehals hat es Angela Merkel in der von ihr entdeckten Kunst des Durchregierens noch nicht gebracht. Was Orwells Routinier auf Anhieb schaffte, dafür braucht sie noch immer ein paar Stunden; aber sie lernt und kommt voran. Der Rettungsschirm, den sie zusammen mit ihren europäischen Verbündeten zur Verteidigung der kriselnden Gemeinschaftswährung zusammengeschustert hat, darf als der erste Großversuch für ihre Strategie des schnellen Seitenwechsels gelten. Nach dieser Wende um nicht weniger als 180 Grad war plötzlich alles anders; die Wähler sollten vergessen, was ihnen jahrzehntelang eingetrichtert worden war, und das Gegenteil von dem für richtig halten, was sie von ihren politischen Vormündern über die Grundsätze der Währungsstabilität, der Haushaltspolitik, des Schuldenmachens und des Bail-out-Verbots gelernt hatten.

Ein solcher Erfolg ruft geradezu nach einer Wiederholung. Die gab es jetzt mit jenem Schwenk, in dem sich die Union über alles hinwegsetzte, was sie bisher hochgehalten hatte: über Gesetz und Recht, Vernunft und Anstand, Glaubwürdigkeit, Vertrauensschutz, Berechenbarkeit und vieles mehr. Nicht nur die Not, auch die Parteiraison kennt offensichtlich kein Gebot; der Kampf um die Macht, das einzige, was die CDU noch zusammenhält, schon gar nicht. Wieder einmal mußten die parlamentarischen Dienstboten der Kanzlerin in aller Eile umlernen; was sie, von Merkel gut gedrillt, auch taten, indem sie von anderen Konsequenzen verlangten, die sie selbst ein übers andere Mal verweigert oder hintertrieben hatten.

Plötzlich war unsicher, was gestern noch sicher war, mußte im Handumdrehen abgeschaltet werden, was eben erst mit allerlei Raffinesse verlängert worden war, wurde als weise Entscheidung ausgegeben, was kurz zuvor noch Panikmache hieß. Kopflosigkeit galt jetzt als Zeichen von Besonnenheit, Nervosität als Beweis von Führungsstärke, Opportunismus als Ausdruck von verantwortlichem Handeln. Buchstäblich über Nacht war sie da, die Alternative, von der Frau Merkel und ihre Entourage, die Kauders, Mappus und wie sie sonst noch heißen, so lange Zeit nichts wissen wollten.

Mit Fukushima, sagte die Vorsitzende, sei das „absolut Unwahrscheinliche“ Realität geworden, das scheinbar Unmögliche möglich geworden. Das ist sprachlich mißglückt, denn technisch definiert sich „Risiko“ als das Produkt aus Schadenshöhe und Eintrittswahrscheinlichkeit: ein folgenreiches Artefakt, weil man nur einen der beiden Faktoren in die Nähe von Null bringen muß, um auch das Ergebnis insgesamt gegen Null konvergieren zu lassen. Diesen Trick kennen und nutzen die Reaktorbauer, um dem ahnungslosen Publikum ein X für ein U vorzumachen und eine Sicherheit vorzugaukeln, die es in Wahrheit gar nicht gibt.

Eine der zahlreichen Propagandafibeln, mit denen die Atomindustrie um Zuspruch wirbt, nennt die Wahrscheinlichkeit, daß es zu einem schweren Unfall kommen könnte, „äußerst gering“ und fährt dann fort: „Derartig kleine Wahrscheinlichkeiten entziehen sich dem menschlichen Vorstellungsvermögen; sie werden deshalb mit Bezeichnungen wie ‘gibt es nicht‘ oder  ‘ausgeschlossen‘ versehen.“ Ein Hokuspokus in drei Schritten: erst wird das Wirkliche zum Möglichen verharmlost, danach das Mögliche zum Unwahrscheinlichen verkleinert, schließlich das Unwahrscheinliche so lang zerrieben und zerstampft, bis es zum Nichts zerfällt. Am Ende existiert das Risiko nicht mehr, es ist verschwunden, wenn schon nicht aus der Wirklichkeit, so doch aus dem Vorstellungsvermögen der Sicherheitsexperten.

Nach dem Menetekel von Harrisburg belehrte ein Mitarbeiter der Gesellschaft für Reaktorsicherheit seine Mitbürger darüber, daß er sich auf die Beherrschung „anzunehmender Störfälle“ beschränke, weil „aus Ereignissen, die als sehr unwahrscheinlich betrachtet werden, keine Auslegungsanforderungen abgeleitet werden können“. Mit anderen, offeneren und ehrlicheren Worten: Die physikalische Wirklichkeit hat sich nach dem technisch Möglichen zu richten, nicht umgekehrt.

Wenn es trotzdem so aussieht, als ob mehr möglich ist, als uns lieb sein kann, dann rechnen wir so lange, bis das Restrisiko verduftet ist. Macht die Natur bei diesem Spiel nicht mit, dann sprechen wir von einer neuen Lage und beklagen uns darüber, daß das Unmögliche möglich geworden sei; genauso wie die Kanzlerin, die sich zumindest hier, in der Kunst der dummen Ausrede, auf der Höhe der Zeit und dem Stand der Wissenschaft befindet.

Nach der Kernschmelze im Reaktor von Tschernobyl verteidigte der Physiker Heinz Maier-Leibnitz, jahrzehntelang die wohl einflußreichste Figur in der deutschen Reaktorindustrie, sich selbst und seine Freunde gegen den Vorwurf, sie hätten ein solches Ereignis ausgeschlossen. Kein Verantwortlicher, so der Professor damals, habe je behauptet, daß es Unfälle dieser Art nicht geben könne; „der Fall Tschernobyl hat nun gezeigt, was wirklich geschieht. Insofern kann man also nicht sagen, daß durch Tschernobyl die Erwartungen an die Kernenergie von der Sache her anders geworden sind. Allenfalls müßte jemand, der rational denkt, zu der Schlußfolgerung gelangen: so schlimm, wie die Folgen eines solchen Unfalls in der Vergangenheit dargestellt wurden, sind sie nun auch wieder nicht“.

Das ist die Rationalität der Wissenschaft: fiat scientia, pereat mundus. Anders als der gemeine Mensch haben die Experten keine Mühe, auch Katastrophen biblischen Ausmaßes wie die von Tschernobyl in ihre kühlen Rechnungen einzustellen und Megawatt mit Megadeath zu verrechnen. Wenn Tausende ums Leben kommen, wenn das Land verwüstet und die Wirtschaft ruiniert wird, dann ist das eben nur der Preis, der für den Fortschritt zu entrichten ist. Kernphysiker aus aller Welt haben das Drama von Tschernobyl geradezu begrüßt, weil sie nun endlich das ersehnte, hinreichend große Laboratorium besaßen, in dem sich die langfristigen Folgen harter Strahlung lebensnah studieren ließen. Die den Experten antrainierte Experimentalgesinnung durchdringt alles und verschont nichts, nicht einmal die Grundsätze der Humanität.

Selbst ein so honoriger Mann wie Max von Laue vermochte in den Bomben, die Hiroshima und Nagasaki zerstörten, „physikalisch gesehen“ nichts anderes zu erkennen als das größte Experiment, das die Menschen je angestellt hatten. „Es war die glänzende Bestätigung einer kühnen, von der Überzeugung der objektiven Wahrheit der Physik getragenen Voraussage.“

Einmal in 10.000 Jahren sei der GAU, der größte anzunehmende Unfall, zu erwarten, heißt – oder hieß – das Votum der Experten. Man muß allerdings kein Wissenschaftler sein, um zu erkennen, daß dieser Wert durch die Zahl der weltweit laufenden Atomkraftwerke geteilt werden muß, um zu einer halbwegs realistischen Einschätzung zu gelangen. 10.000 wäre also durch 500 zu teilen, was 20 ergibt. Alle 20 Jahre ein Unfall in der Art von Harrisburg, Tschernobyl oder Fukushima: das ist die Aussicht, die uns die Fachleute eröffnen, wenn sie uns raten, an der Kerntechnik als einer unentbehrlichen Brückentechnologie bis auf weiteres festzuhalten.

Und diesmal muß man ihnen glauben, weil sich ihre Aussage mit dem Erfahrungswert der Jahre 1979 (Harrisburg), 1986 (Tschernobyl) und 2011 (Fukushima) recht gut deckt – wobei die Beinahekatastrophen von Windscale, Forsmark und so weiter noch nicht mitgezählt sind, genausowenig wie das Unglück im russischen Tscheljabinsk, das der Geheimhaltung unterliegt.

Eine Technologie, die hochgiftige Rückstände mit einer Halbwertszeit von 24.000 Jahren in Tonnenumfang hinterläßt, verträgt sich eben nicht mit demokratischen Gebräuchen. Sie verlangt, laut oder leise, nach der harten Hand des Staates, und vielleicht ist es ja gerade dieser Ruf, der sie dem einen oder anderen unserer machtbewußten Parteipolitiker so unentbehrlich erscheinen läßt.

Keine zweite Technologie ist mit einer solchen Unzahl von halben Wahrheiten und ganzen Lügen in die Welt gesetzt, auf den Wege gebracht und gegen alle Widerstände verteidigt worden wie die zu Unrecht so genannte „friedliche“ Nutzung der Kernenergie. Schon das Wort ist ein schäbiger Euphemismus, weil es zwar friedliche Absichten geben mag, eine friedliche Technik aber gewiß nicht. Daß die wissenschaftlichen, technischen und industriellen Verfahren, die den sogenannten segensreichen Gebrauch der Kernkraft möglich machen, nicht von denen zu trennen sind, die der Herstellung von Atomwaffen dienen – mit dieser Feststellung war Robert Oppenheimer, der es als Vater der Atombombe wissen mußte, schon 1946 zur Stelle.

In welchem Umfang er recht behalten sollte, hat er sich damals wohl nicht träumen lassen. Bis heute haben alle Länder, die das wollten, den unverdächtigen, von den Bütteln der internationalen Atomindustrie empfohlenen Umweg über die friedlich genannte Reaktortechnik gewählt, um in den Besitz der Bombe zu gelangen: neben Indien und Pakistan waren das Israel und Nordkorea, demnächst wird auch der Iran in diesen Kreis gehören, und viele andere werden folgen. Sollten Bin Laden und seine Leute diesen Umweg gehen, gnade uns Gott.

Eins sollte klar sein: Der Wunsch nach einer friedlichen Welt und der Gebrauch der Kernenergie in welcher Form auch immer schließen sich aus. Man muß die Bombe gar nicht einmal haben wollen, man muß nur warten, um so oder so zum Opfer der Reaktorindustrie zu werden. Schlagartig könnten wir in dieser Sache Klarheit gewinnen, wenn wir den Kategorischen Imperativ zeitgerecht erweitern und von jedem, der diese Form der Energieerzeugung als zumutbar, verantwortbar oder sonstwie verteidigt, verlangen würden, das Risiko, das er anderen empfiehlt, auch selbst zu übernehmen: etwa dadurch, daß er seinen Wohnsitz in Sichtweite eines Atomkraftwerks aufschlägt und im Störfall augenblicks bereit ist, die Hinterlassenschaft dieser konkurrenzlos billigen Energiequelle mit eigenen Händen zu beseitigen. Der Spuk wäre dann sehr schnell vorbei, schneller als Gysi das will und Merkel das kann.

 

Dr. Konrad Adam, Jahrgang 1942, Journalist und Buchautor, war Feuilletonredakteur der FAZ, danach bis 2007 Chefkorrespondent der Welt. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über den Fall Guttenberg (Das geblendete Bürgertum, JF 10/11).

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