© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/11 01. April 2011

Schwierig und teuer
Energiepolitik: Der absehbare Atomausstieg wirft ökonomische und ökologische Fragen auf / Investitionsbedarf von 230 Milliarden Euro / Neue Kohlekraftwerke?
Christian Böhm

Deutschland steigt aus der Atomenergie aus. Die Wählermehrheit will es offensichtlich so. Doch der beschleunigte Ausstieg ist nicht nur eine große Herausforderung für die Energiewirtschaft, sondern für die deutsche Volkswirtschaft und Gesellschaft insgesamt. Der Ersatz der Primärenergiequellen Kernkraft, Kohle, Öl und Gas läuft seit einigen Jahren. 2010 stammten – dank Subventionen und hoher Einspeisevergütung – schon 17,4 Prozent der deutschen Stromerzeugung aus erneuerbaren Quellen.

Technologien wie Wind- und Wasserkraft, Solarzellen, Kraft-Wärme-Kopplung, Bioenergie, Geothermie oder die Brennstoffzelle sowie Effizienzsteigerungen und Energiesparen machen eine Substitution langfristig prinzipiell möglich. Durch den Umstieg auf erneuerbare Quellen müssen zudem die bestehenden zentralistischen Versorgungsstrukturen durch eine dezentral organisierte Energieerzeugung abgelöst werden.

Doch Wind- und Solarkraftwerke liefern wetterbedingt nicht gleichmäßig Energie. Mithin besteht die schwierige Aufgabe, die Schwankungen auf der Erzeugerseite auszugleichen – ansonsten drohen „Blackouts“ in Serie. Zur Netzabsicherung bedarf es ausreichend schneller Energiezwischenspeicher, deren Reaktionskapazitäten entsprechend dem zeitabhängigen Energiebedarf ausgelegt sind. Hier kommen bisher Pump- oder Druckluft-Speicherkraftwerke zum Einsatz. Interessant erscheint die Variante, die überschüssige Energie für die Elektrolyse von Wasserstoff zu nutzen. Dieser wird in Wasser und Methan umgewandelt. Letzteres kann dann in das vorhandene Gasnetz eingespeist werden. Auch die Entwicklung wettbewerbsfähiger Speicher, die am Ort der Energieerzeugung installiert und betrieben werden können, schreitet voran.

Die Vielzahl von Energiequellen und -senken (Verbrauchern), Speichern und Netzbetriebsmitteln kann theoretisch derart vernetzt werden, daß die Nutzer von einem gewohnten Primärenergie-Versorgungssystem ausgehen können. Intelligente Netze dieser Art (Smart Grids) werden derzeit unter Realbedingungen erfolgreich erprobt. Die dezentrale Struktur der Energieerzeugung erfordert eine entsprechend leistungsfähige Infrastruktur. Zunächst sind die regionalen Energieflüsse zu bündeln. Sodann ist die Energie über weite Strecken an die Orte des Verbrauchs zu transportieren. Dies macht den Ausbau des überregionalen Versorgungsnetzes unabdingbar.

Die Deutsche Netzagentur (Dena) hat in ihrer Netzstudie II die Investitionen berechnet, die bis 2020 getätigt werden müßten, um einen Anteil von 38 Prozent am Primärenergiebedarf auf erneuerbare Energien umzustellen. Der Gesamtinvestitionsbedarf liegt bei 230 Milliarden Euro – das entspricht den gesamten jährlichen Steuereinnahmen den Bundes. Etwa 200 Milliarden davon entfallen auf den Ausbau der Energieerzeugung mit Windkraft, Solarzellen oder Biogas. Der Rest verteilt sich auf die Erweiterung der Speicherkapazitäten und der Infrastruktur. Dabei sind 3.600 Kilometer an zusätzlichen Überlandleitungen zu installieren – was lokal auf noch stärkere Widerstände treffen dürfte als der Bau neuer Windräder.

Das Investitionsvolumen von jährlich etwa 23 Milliarden Euro könnte wie ein Konjunkturprogramm wirken. Die Agentur für Erneuerbare Energien rechnet mit einer halben Million zusätzlicher Arbeitsplätzen in der Branche. Dem steht allerdings entgegen, daß der Ökoumbau zu noch höheren Strompreisen führt – mit Rückwirkung auf die deutsche Wettbewerbsfähigkeit. Die Abwanderung energieintensiver Branchen (Baustoffe, Chemie, Metallurgie, Papier) führt zu Arbeitsplatzabbau. Das in die Energiewende investierte Kapital fehlt andernorts. Allein die Maßnahme, die Grundlast ohne Atomstrom zu erzeugen, verursacht einen Strompreisanstieg – je nach Schätzung – von 0,3 Cent bis zu drei Cent pro Kilowattstunde.

Der technologische Wandel bewirkt tiefgreifende Veränderungen auf dem Energiemarkt. Mit der Umstellung auf dezentrale Strukturen ändern sich die Machtverhältnisse. Das Energie-Oligopol von RWE, EnBW, Eon und Vattenfall unterliegt dann zunehmendem Wettbewerb. Dieser kann und muß durch fair kalkulierte Netzentgelte optimiert werden. Hier sind die staatlichen Regulierer gefordert. Die Strompreiserhöhung könnte so zum Teil kompensiert werden.

Viele befürworten den Atomausstieg – sie sind aber gleichzeitig gegen eine Hochspannungsleitung in ihrer Nähe. Im Schwarzwald kämpft eine Bürgerinitiative gegen den Bau eines 1.400-Megawatt-Pumpspeicherkraftwerks – doch diese sind unverzichtbar, um die wetterwendige Wind- und Sonnenkraft auszugleichen.

Die Bioenergie hat das ethische Problem „Tank oder Teller“ zu lösen. Das Abschalten der Atomkraftwerke erhöht zumindest kurz- und mittelfristig den CO2-Ausstoß, wenn Kohle- oder Gaskraftwerke ihre Leistung hochfahren, um die fehlende Grundlast zu übernehmen. Deutschlands selbstgesetzte „Klimaziele“ wären dann in Gefahr. Sogarwenn alle deutschen AKW abgeschaltet würden, käme Atomstrom weiter durch das engmaschige europäische Energieverbundsystem nach Deutschland – zum Beispiel aus französischen, belgischen oder tschechischen Kraftwerken.

Es wird schwierig und teuer, die politisch gesetzten Ethik-, Klima- und Energieziele mit volkswirtschaftlichen Implikationen in Einklang zu bringen. Und wenn – etwa bei einer Verschärfung der Situation in Japan – die breite Ablehnung der Atomenergie in Deutschland auch auf andere EU-Staaten übergreift, ist nicht auszuschließen, daß bald eine Diskussion über den Neubau von Kohle- oder Gaskraftwerken entbrennt – denn irgendwo muß der Grundlaststrom ja schließlich herkommen.

Die Dena-Netzstudie II: www.dena.de

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