© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/11 01. April 2011

Europas Weg in die Transferunion
Die Wohlfahrtsfalle
von Erich Weede

Seit Jahrzehnten zeichnen sich die westlichen Demokratien dadurch aus, daß die Staatsquoten immer weiter steigen. Dabei steigen die Staatsausgaben noch schneller als die Staatseinnahmen. Neben der Lücke zwischen den Ausgaben und Einnahmen des Staates, also seinen Defiziten, entwickeln sich die Sozialleistungen dabei am dynamischsten.

Der typische westeuropäische Sozialstaat hat Staatsausgabenquoten in der Nähe der Hälfte und Sozialtransferquoten in der Nähe eines Drittels des Bruttoinlandsprodukts. Die durch steigende Sozialtransfers angestrebte soziale Gerechtigkeit erfordert in der Regierungs-praxis offenbar die Überlastung künftiger Generationen mit Staatsschulden, also den Verzicht auf Generationengerechtigkeit.

Selbst diejenigen, die Sozialtransfers für eine moralische Pflicht des Staates und seiner Bürger halten, müßten Schwierigkeiten mit der ethischen Rechtfertigung der Belastung künftiger Bürger haben, die sich nicht gegen die Zumutungen der jetzt herrschenden Generation wehren können. Auch die Anreizwirkungen des umverteilenden Steuer- und Sozialstaates müssen problematisch sein: Wer viel leistet und verdient, wird durch progressiv steigende Steuern und Abgaben bestraft. Wer wenig oder nichts leistet und verdient, wird durch Sozialtransfers belohnt. Kann das auf lange Sicht ohne Wirkung auf die Arbeitsbereitschaft bleiben?

Lohnt es sich für die Eltern noch, vor allem bei unterdurchschnittlich begabten Kindern, ihren Kindern Arbeitsdisziplin zu vermitteln, wenn man von vielleicht unangenehmer Arbeit in unteren Lohngruppen ähnlich bescheiden wie von Sozialtransfers leben wird? Der Zusammenhang von einem unzureichenden Abstand zwischen niedrigen Arbeitslöhnen und Sozialleistungen einerseits und dem Elend an vielen Hauptschulen andererseits wird bei uns kaum bedacht.

Solange der Sozialstaat nicht überall gleichmäßig entwickelt ist, vermittelt er auch genau die falschen Anreize zur Zuwanderung und Auswanderung. Der deutsche Leistungsträger darf bei Abwanderung in die Schweiz oder die USA hoffen, seine Steuer- und Abgabenbelastung zu reduzieren. Für den türkischen oder arabischen Zuwanderer aber sind deutsche Sozialleistungen attraktiver als die bescheidenen Löhne in seiner Heimat.

Bisher wurde der Sozialstaat nur innerhalb von Nationen verwirklicht; jetzt sind wir dabei, zumindest die Eurozone – also den Kern der Europäischen Union – zu einer Solidaritätsgemeinschaft auszubauen. Wie im heimischen Sozialstaat sollen auch in Europa künftig die Starken den Schwachen helfen. Mit der Griechenlandhilfe und dem später beschlossenen Rettungspaket bzw. dem Eurostabilisierungsmechanismus aus dem Frühjahr 2010 ist das „No bailout“-Prinzip, die Eigenverantwortung jedes Staates für seine Schulden, faktisch aufgegeben worden.

Seitdem die Europäische Zentralbank mediterrane Staatsanleihen kauft, ist auch die Monetarisierung von Staatsschulden in die Wege geleitet. Ob diese Beschlüsse von der deutschen Regierung überhaupt im Rahmen der geltenden Verfassung und der geltenden europäischen Verträge hätten mitgetragen werden dürfen, das muß in Verfassungsbeschwerden, die dem deutschen Bundesverfassungsgericht vorliegen, noch geklärt werden. Ein Wortführer und Verfahrensbevollmächtigter zweier Beschwerden, der Wirtschaftsjurist Markus C. Kerber, hält nicht die Griechenlandhilfe oder den Eurorettungsschirm, sondern nur den demokratischen Verfassungsstaat für alternativlos, wie sein 2010 erschienenes Buch bereits im Titel andeutet: „Der Verfassungsstaat ist ohne Alternative“.

Es ist nicht leicht einzusehen, wie deutsche Politiker vor wenigen Jahren noch die Eigenverantwortung jedes Staates für seine Schulden für ein grundlegendes Prinzip halten konnten und heute die Aufgabe dieses Prinzips eine unabweisbare Notwendigkeit sein soll. Schon aus logischen Gründen ist klar, daß die deutsche Politik mindestens einmal schlecht durchdacht gewesen sein muß.

Auch den Nichtjuristen müssen die Verfassungsbeschwerden beunruhigen. Man erwartet im demokratischen Verfassungsstaat von einer Regierung nicht, daß diese sich in ganz wesentlichen Fragen am Rande der Legalität bewegt. Wenn Deutschland (nach Kerber) in Höhe von 68 Prozent der Steuereinnahmen des Bundeshaushaltes für andere haftet, dann ist das keine Kleinigkeit. Leider ist es mittlerweile schon eine Gewißheit, daß die Regierung Merkel den 2010 eingeschlagenen Irrweg konsequent weitergeht und das Ausmaß der deutschen Haftung erhöht.

Bei der Griechenlandhilfe wird zuweilen behauptet, daß das eine verkappte Bankenrettungsaktion sei. Schon weil Demokratie Transparenz erfordert und den Regierenden gerade nicht erlauben soll, die Regierten zu täuschen, ist das ein schlimmer Vorwurf. Kerber weist darauf hin, daß Frankreichs Anteil an der Griechenlandhilfe geringer als der Risikoanteil seiner Banken ist, bei Deutschland und mehr noch bei Italien ist es umgekehrt.

In Anbetracht der schlechten Finanzlage des italienischen Staates muß man die Frage aufwerfen, ob der fiskalisch angeschlagene italienische Staat schon zu den Starken in Europa gehört? Oder braucht Italien den griechischen Präzedenzfall, um später seinerseits die „europäische Solidarität“ beanspruchen zu können?

Ob die Transfers von den Starken wie Deutschland, den Niederlanden oder Frankreich zu den Schwachen wie Griechenland, Irland oder Portugal zur Stärkung der Schwachen beitragen, darf man bezweifeln. Der Länderfinanzausgleich zu Lasten der süddeutschen und zugunsten der norddeutschen Länder – insbesondere die Zahlungen an die alten Länder im Nordwesten, die nie unter sowjetischer Besatzung und den sich daraus ergebenden wirtschaftspolitischen Fehlsteuerungen gelitten haben – hat wenig zur Überwindung von Strukturschwächen im Norden beigetragen.

Daß der Süden Italiens durch die Leistungen des reicheren Nordens gesundet ist, hat noch niemand behauptet. Die ökonometrische Evidenz spricht im Ganzen auch gegen die Wirksamkeit von Entwicklungshilfe. Warum sollen Transfers aus den reichen Ländern Europas in die ärmeren funktionieren? Ist es nicht plausibler, daß Hilfszahlungen eigene Anstrengungen ersetzen?

Statt dessen darf man erwarten, daß die Transfers die Starken schwächen. Betrachten wir Deutschland, das größte der starken Länder. Die explizite Staatsverschuldung liegt zwar in der Nähe von 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, aber sie steigt immer noch. Rechnet man ungedeckte Renten-, Pensions- und andere Versprechungen des Staates hinzu, dann ist man in der Nähe von 300 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Dieser hoch verschuldete Staat ergraut und hat mit zunehmenden Integrationsproblemen zu kämpfen, weil die einheimische Bevölkerung weniger Kinder als die Zuwanderer hat, weil Zuwandererkinder häufiger als andere unter Schulproblemen leiden und Schwierigkeiten damit haben, einen Arbeitsplatz zu finden. Wie lange noch kann dieses hoch verschuldete Land mit seit fast fünfzig Jahren eher ab- als zunehmendem Wirtschaftswachstum noch anderen helfen, ohne selbst seine Bonität zu verlieren und höhere Zinsen für seine Staatsschulden zahlen zu müssen, ohne noch mehr Leistungsträger Richtung Schweiz oder USA zu vertreiben?

Europa braucht nicht die Ergänzung der verschuldeten Sozialstaaten durch eine europäische Transfergemeinschaft mit neuen Anreizen zur Verschuldung, die sich dann ergeben müssen, wenn die dank unsolider Haushaltspolitik Schwachen hoffen dürfen, einen Teil der Lasten auf die angeblich Starken abwälzen zu können. Wird solide Haushaltspolitik wahrscheinlicher, wenn man sie bestraft? Was Europa braucht, ist mehr Standortwettbewerb, mehr wirtschaftliche Freiheit und mehr Eigenverantwortung für Individuen und Familien, für Städte und Bundesländer und Staaten. Die europäische Einheit ist ein zweischneidiges Schwert. Kein vernünftiger Mensch wird sich für die Zukunft eine Fortsetzung der mörderischen europäischen Bruderkriege des 20. Jahrhunderts wünschen.

Sicher bezieht das Projekt der Einheit Europas den größten Teil seiner Legitimität von dem Wunsch, künftige Kriege innerhalb Europas im allgemeinen und zwischen Frankreich und Deutschland im besonderen zu vermeiden. Benötigen wir dazu die Europäische Union und die Brüsseler Bürokratie mit ihren Demokratiedefiziten? Wird Europas Frieden nicht durch andere Faktoren gestützt?

Statt dem Euro und föderalistischen Sehnsüchten sollten wir der Durchsetzung von Demokratie, innereuropäischem Freihandel und Zusammenarbeit der meisten europäischen Staaten in der Nato weit mehr Gewicht beimessen. Für die Friedenserhaltung in Europa war immer eher die Nato als die EU zuständig. Zwar hat die Europäische Union bei der Marktöffnungs- und Wettbewerbspolitik durchaus ihre Verdienste, aber es gibt in Europa auch die unglückselige Tendenz, den politischen Wettbewerb, vor allem den Steuerwettbewerb, zu begrenzen. Irland bekommt das wegen seiner niedrigen Unternehmenssteuern gerade zu spüren.

Je stärker die EU den Steuerwettbewerb begrenzt, desto mehr mutiert sie zu einer Interessenvertretung der Regierenden, die sich zum einen der Kontrolle der Regierten durch das Abschieben der Verantwortung für unpopuläre Entscheidungen nach Brüssel entziehen möchten und zum anderen den Leistungsträgern die Abwanderungsdrohung erschweren und entwinden wollen.

Dabei wird übersehen, daß Europa im Laufe der letzten Jahrhunderte die asiatischen Hochkulturen nur deshalb wirtschaftlich und technologisch überholen konnte, weil die Regierungen der vergleichsweise kleinen europäischen Staaten in harter Standortkonkurrenz um die Gunst von Talent und Kapital konkurrieren mußten. Die Eigentumsrechte der Bürger hatten bereits vor der Demokratisierung in Europas Monarchien mehr Geltung als in den Despotien Asiens.

Da Europas Politiker von heute gezeigt haben, daß sie nicht mit Geld umgehen können, sollten sie durch Referenden in Finanzfragen, wie in der Schweiz, an den Volkswillen gekettet werden. Der hätte Europas jüngsten Irrweg wohl kaum gut geheißen.

Je mehr Europa eine Transfergemeinschaft wird, desto stärker wird der Anreiz für die Politiker, aus Europa auch noch eine Inflationsgemeinschaft zu machen. Je größer die Staatsschuld, desto näher liegt es, sich mit der Notenpresse zu entschulden und die Gläubiger mit Geld schrumpfender Kaufkraft abzufinden. Konsequente Denker wie der Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek hatten deshalb schon vor Jahrzehnten die Entstaatlichung des Geldes gefordert. Das wäre auch eine Schuldenbremse.

Solange wir den Politikern die Inflationsoption belassen, müssen wir befürchten, daß sie diese gebrauchen. Wenn wir in einer europäischen Schuldenhaftungs- und Transfergemeinschaft angekommen sind, dann werden unsere Politiker einmal mehr keine Alternative sehen. Dann werden die Sparer enteignet. Wenn alles klappt, nur langsam oder „sozialverträglich“.

 

Prof. Dr. Erich Weede, Jahrgang 1942, Diplom-Psychologe und Politologe, war Professor für Soziologie an den Universitäten Köln und Bonn. Er schrieb zahlreiche Fachbücher, zuletzt „Unternehmerische Freiheit und Sozialstaat“ (2008).

Foto: Das Tor zur Transferunion: Der innereuropäische „Finanzausgleich“ wird nicht die Schwachen stärken, sondern die Starken schwächen

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