© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/11 01. April 2011

Der Flaneur
Sterbende Dörfer
Heino Bosselmann

Radle ich durch die Dörfer Mecklenburgs, so beeindrucken mich deren urige Feldsteinkirchen. Die meisten davon stehen seit dem 12. und 13. Jahrhundert, seit der Zeit also, in der das Christentum mit Heinrich dem Löwen und – weiter nördlich – durch die dänischen Bischöfe von Roskilde ins Land kam. Ich stelle mir vor, wie die neuen deutschen und niederländischen Siedler gemeinsam mit den christianisierten Wenden aus den in der Moränenlandschaft zusammengekarrten Steinen ihre Gotteshäuser bauten, fester und bewehrter als die eigenen Wohnstätten aus Lehm, damit sie über ein geistiges Zentrum verfügten, das ihnen „nachhaltige“ Sicherheit in den Fährnissen ihres Daseins bot.

Es gibt in meiner Region Kirchenruinen, deren Steinmauern immer noch aufragen, während die einst um sie gescharten Dörfer längst wüst und verschwunden sind, durch die Pest etwa oder den Dreißigjährigen Krieg. Und obwohl immer weniger Gottesdienste gefeiert und Gemeinden zusammengelegt werden, mögen diese Feldsteinkirchen noch stehen, wenn die meisten Leute längst fortgezogen und ganze Dörfer verwaist sind.

Melancholie. Die kleinen Orte außerhalb der Speckgürtel von Städten verlieren ihre Lebendigkeit. Die Landwirtschaft der Dörfer ist an die Agrarindustrie verloren. Selbst in der DDR lebten sie noch mit den Genossenschaften, die jedem Teilhabe sicherten. Da wurden sogar die alten Gutshäuser genutzt, wenngleich zweckentfremdet. Sind diese heute keine Hotels oder anderweitig privatisiert, verfallen sie in ihren verwuchernden Parks.

Wo kaum produziert wird, leben noch alternde Konsumenten, deren ideelles Zentrum nicht mehr Kirche, Pfarrhaus, Schloß ist, sondern die Arbeitsamt-Alimentierungen, die Maßnahmekarrieren und die Discounter in den Gewerbegebieten. Alles ist eitel, alles vergeht.

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