© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/11 08. April 2011

„Merkel hat das Spiel überzogen“
Erst verwirken sie das Vertrauen der Wähler, dann die Landtagswahlen. Nun lassen sich CDU und FDP politisch einkochen – auf der Strecke bleibt die bürgerliche Politik
Moritz Schwarz

Herr Professor Kepplinger, war die historische Wahlniederlage der Bürgerlichen im Südwesten eigentlich unabwendbar?

Kepplinger: Im Grunde ja – und deshalb ging es im Kern darum nicht mehr.

Sondern?

Kepplinger: Es ging darum, wie Union und FDP diese Situation ohne größeren Gesichtsverlust überstehen können.

Allerdings scheint dies kaum zu beschäftigen: Erst Merkels „Rolle rückwärts“ (Helmut Kohl), jetzt die „systematische Umfallerei der FDP“ („Tagesspiegel“). „In atemberaubendem Tempo ergrünt die Republik“, bringen die „Kieler Nachrichten“ das Verhalten der Bürgerlichen auf den Punkt. 

Kepplinger: Dieser Prozeß hat ja schon vor der Wahl eingesetzt. Was wir jetzt erleben, ist nur ein weiteres in einer ganzen Serie von Wendemanövern. Bemerkenswert ist die Rechtfertigung von Stefan Mappus, ohne Kehrtwende in der Atompolitik hätte man wohl „nur 34 oder 35 Prozent“ statt wie jetzt 39 Prozent geholt.

Das ist doch nicht von der Hand zu weisen.

Kepplinger: Mag sein, aber darum geht es nicht. Es ist egal, ob die CDU 34 oder 39 Prozent erhalten hat. Sie hätte in beiden Fällen die Wahl verloren. Sie hätte aber mit 34 Prozent ohne Kehrtwende ihre Glaubwürdigkeit behalten. Und das ist eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg bei kommenden Wahlen.

„Vielleicht“, so hat man sich wohl gedacht, „gewinnen wir die Wahl doch noch!“

Kepplinger: Das wäre eine krasse Fehleinschätzung gewesen. CDU und FDP haben gegen eine Angstkampagne der meisten Medien angekämpft und konnten unter dieser Voraussetzung nicht gewinnen. Die Angst war real, aber ihre Ursache von den Medien konstruiert.

Warum?

Kepplinger: Kein Wähler hatte Kenntnisse aus erster Hand. Alle haben sich auf die Darstellung der Medien gestützt. Die Darstellung der Katastrophe in Fukushima folgte dabei dem Muster der Berichterstattung über die Katastrophe bei Tschernobyl: Beide Katastrophen wurden im Unterschied zur Berichterstattung in anderen westlichen Ländern hierzulande extrem hochgespielt. Dadurch erhielten die Katastrophen hier eine Bedeutung, die sie in anderen Ländern nicht hat beziehungsweise hatte. Zudem wurden die Besonderheiten der Ursachen – im Fall Fukushima das Zusammenwirken eines extremen Erdbebens und eines extremen Tsunamis – in den meisten Berichten nicht erwähnt und entsprechend heruntergespielt. Dadurch erschien Fukushima nicht als Folge regionaler Besonderheiten, sondern als Beleg für das generelle Risiko der Kernenergie, und die Berichterstattung etwa der Hörfunk- und Fernsehsender wurde zur Dauerwerbesendung für die Grünen, die einen schnellen Ausstieg aus der Kernenergie versprachen.

Hat diese Darstellung tatsächlich etwas mit den Wahlen zu tun?

Kepplinger: Diese Vermutung drängt sich durch den Verlauf der Berichterstattung auf. Nur wenige Tage nach den Wahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz war die drohende Apokalypse ans Ende der meisten Nachrichtensendungen und den unteren Rand fast aller Titelseiten gerückt oder ganz daraus verschwunden. Bei der exzessiven Darstellung der Reaktorkatastrophe ging es nicht primär um die Kernschmelze in Japan, sondern um die CDU-Schmelze in Deutschland. Daß dies gelungen ist, beruht auf dem sogenannten „Priming“-Effekt der Medien: Ein bemerkenswerter Teil der Wähler entscheidet sich für die Partei, die die größte Kompetenz zur Lösung des gerade aktuellsten Problems besitzt. Und das waren im konkreten Fall nach Meinung vieler die Grünen.

Also machen die Medien die Politik?

Kepplinger: Natürlich machen die Medien Politik. Der Ausgang der Wahl im Südwesten ist eine Demonstration der Macht der Medien. Dabei handelt es sich um einen Sonderfall, der jedoch einen bekannten Vorläufer hat – die exzessive Berichterstattung über die sogenannte „Jahrhundertflut“ vor der Bundestagswahl 2002. Derartige Machtdemonstrationen der Medien entlasten die Politik aber nicht von eigenen Fehlern.

Nämlich konkret?

Kepplinger: Die Grundlage von Erfolg in der Politik ist das Vertrauen der Bürger, und die wichtigste Regel der politischen Kommunikation lautet: Vor allem anderen muß man Vertrauen schaffen und bewahren. Vertrauen ist, um den Soziologen Niklas Luhmann zu zitieren, ein Mechanismus zur Reduzierung von Komplexität. Wer ist schon hinreichend gut informiert, um sich selbst eine begründete Meinung zur Energieversorgung, zur Rentensicherheit, zum Gesundheitswesen, den Bundeswehreinsätzen usw. zu bilden? Dies kann allenfalls eine kleine Minderheit. Die Masse der Wähler muß darauf vertrauen können, daß die von ihr bevorzugten Politiker und Parteien begründete Meinungen haben und daß sie dazu stehen. Wird dieses Vertrauen mehrfach erschüttert, entziehen sie ihnen ihr Vertrauen. Deshalb kann man nicht wie die CDU/CSU über Jahre eine bestimmte Energiepolitik vertreten und unter dem Eindruck einer medial gemachten Pseudokrise innerhalb von Tagen alles über Bord werfen. Dies gilt für die Kernenergie-Gegner in der Politik genauso wie für ihre Befürworter.

Nicht unbedingt, das Gedächtnis der meisten Wähler ist bekanntlich kurz.

Kepplinger: Wenn Sie sich da mal nicht täuschen. Die Wähler vergessen schnell, wenn es um Themen geht, die emotional nicht stark besetzt und in den Einstellungen nicht tief verhaftet sind. Der Fall Libyen ist ein Bespiel dafür. Die Meinungen und Einstellungen zur Kernenergie haben sich dagegen hierzulande über Jahrzehnte entwickelt. Sie sind bei einem Großteil der Befürworter und Gegner tief verankert und emotional stark besetzt. Die Wähler vergessen nicht schnell, wenn Politiker ihre Erwartungen enttäuschen. Beispiel hierfür sind die Reaktionen der SPD-Anhänger auf die erneute Rentenanpassung nach dem Wahlsieg 1998, deren generelle Beseitigung sie vor der Wahl angekündigt hatte: Von den SPD-Anhängern, die sich 1999 getäuscht gefühlt hatten, waren nach der Wahl 2002 über zwei Drittel noch immer dieser Ansicht und über ein Drittel hatte die SPD nicht mehr gewählt.

Guido Westerwelle hat die Wende der FDP mit den Worten „Wir haben verstanden!“ eingeleitet, um neues Vertrauen zu gewinnen. Ist Vertrauenswürdigkeit nur eine Frage des Kommunikationsmanagements?

Kepplinger: Nein. Ohne Bereitschaft, für die eigene Position einzustehen, kann man keine Glaubwürdigkeit gewinnen. Allerdings entsteht daraus nicht automatisch Vertrauenswürdigkeit. Die Bereitschaft muß kommuniziert werden und zwar so, daß die Botschaft zur Person, zur Sache und zu den Erwartungen der Wähler paßt. Und genau an diesem Dreiklang mangelte es den Auftritten von Westerwelle. Mit einem verbrauchten Werbeslogan gewinnt man ebensowenig politisches Vertrauen wie mit erkennbar überzogener Selbstdarstellung.

Die Kanzlerin macht bekanntlich Politik nach Opportunität – und ist dennoch schon fünf Jahre an der Macht.

Kepplinger: Die meisten Wähler wissen, daß Politiker nicht immer das tun können, was sie vor der Wahl sagen. Sie billigen daher in Maßen Abweichungen vom Kurs. Wenn sie aber den Eindruck gewinnen, daß man immer wieder aus taktischen Gründen von Versprechen abweicht, dann fühlen sie sich getäuscht. Frau Merkel hat das Spiel überzogen, als sie in einer Pseudokrise ein langfristiges Element ihrer Energiepolitik einem kurzfristigen Zweck geopfert hat. Ein erheblicher Teil der Unionsanhänger wird das nicht vergessen, zumal es Folgeprobleme hervorruft, die die Erinnerung wachhalten – Preiserhöhungen, Rückschläge beim Klimaschutz, Auseinandersetzungen um Stromleitungen, um nur einige zu nennen.

In der ersten Legislaturperiode war die Kanzlerin beliebt, obwohl sie ja nicht anders regiert hat. Wie paßt das zusammen?

Kepplinger: Während der Großen Koalition hatte Frau Merkel tatsächlich eine wesentlich bessere Presse. Ein wichtiger Grund dafür ist, daß sie damals von linken Medien geschont wurde, weil diese ihre eigene Seite – die SPD war ja ebenfalls an der Regierung beteiligt – nicht unter Druck setzen wollten. Die eher rechte Presse wiederum entschuldigte vieles, weil sie einsah, daß Merkel Rücksicht auf die Sozialdemokraten nehmen mußte. Ihre Strategie des Lavierens erschien damals lediglich als eine Form des Pragmatismus gegenüber den Zwängen einer Großen Koalition. Diese Umstände haben sich seit der Bundestagswahl 2009 bekanntlich geändert. Heute ist ihr Lavieren für alle als Taktik im Interesse des Machterhalts erkennbar. Deshalb ist vermutlich die Zeit der positiven Medienresonanz und ihrer guten Umfragewerte vorbei.

Also steckt hinter der Imagekrise der Regierung eigentlich eine Krise Angela Merkels?

Kepplinger: Sicher, das zeigt ein Gedankenexperiment: Stellen Sie sich vor, Helmut Kohl hätte auf dem Höhepunkt der Proteste gegen den Nato-Doppelbeschluß eine Kommission eingesetzt, die die gesellschaftlichen Auswirkungen der Nachrüstung untersuchen sollte. Eine absurde Idee. Ein Politiker, der so etwas macht, gibt seine Führungskompetenz öffentlich auf.

Helmut Kohl hat Probleme bekanntlich „ausgesessen“. Warum hält sich die Kanzlerin nicht einfach an diese Strategie?

Kepplinger: Weil sie einen anderen Charakter hat und in einer anderen Situation ist. Kohl hatte eine solide Machtbasis in der Partei, auf die er sich auch bei scharfem Gegenwind verlassen konnte. Deshalb konnte er Kampagnen in den Medien relativ gelassen sehen. Frau Merkel dagegen verfügt über keine vergleichbare Hausmacht. Sie ist deshalb sehr viel verwundbarer und auf medialen Rückenwind angewiesen. Das ist der Grund, warum sie sehr viel stärker auf medial vermittelte Stimmungen setzt. Das hat lange funktioniert, jetzt wendet sich diese Strategie gegen sie.

Das heißt, wir erleben nun doch definitiv die Kanzlerdämmerung?

Kepplinger: Frau Merkel ist eine Meisterin der politischen Taktik und deshalb wird sie vermutlich noch einige Zeit das Feld behaupten, möglicherweise bis zur regulären Bundestagswahl. Darüber hinaus dürfte sie keine politische Zukunft haben. Nicht zuletzt, weil sie inzwischen auch in konservativen Medien als nicht vertrauenswürdig dargestellt wird.

Sie beschreiben, wie die Macht der Medien eben eine Wahl entschieden und eine Bundesregierung in eine tiefe Krise gestürzt hat. Also ist weder das Volk noch dessen gewählte Vertreter wirklich der Souverän – sondern die Medien, die Themen setzen und deren Deutung bestimmen?

Kepplinger: Die Medien sind nicht der Souverän, diese Vermutung geht zu weit. Aber in gewissen Situationen verfügen sie über mehr Macht als alle anderen Institutionen in Staat, Politik und Gesellschaft. Die Stimmengewinne der Grünen in den letzten Wochen vor den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz sind Belege dafür, weil man den Einfluß der Medien auf die Atomangst eindeutig vom Einfluß eigener Erfahrungen trennen kann. Daran ändern auch die Vernebelungsaktionen einiger Journalisten nichts, die den Einfluß der Darstellung der Reaktorkatastrophe auf den Wahlausgang bestreiten, weil ihnen dämmert, daß sie eine Mitverantwortung für die unbeabsichtigten negativen Nebenfolgen eines schnellen Ausstiegs aus der Kernenergie besitzen.

In unserem Verfassungsgefüge sind die Medien nicht vorgesehen. Verzerrt ihre Macht nicht in einer dem Grundgesetz widersprechender Weise unseren politischen Prozeß?

Kepplinger: Sie sind nicht in der Theorie der Gewaltenteilung vorgesehen, wohl aber im Grundgesetz verankert. Die Medien besitzen Macht, und wie alle Machthaber mißbrauchen auch sie gelegentlich ihre Macht. Damit müssen wir  im Interesse der Pressefreiheit leben.

Und wo bleiben da Grundgesetz, Volk und Parlament?

Kepplinger: Die Entscheider in allen Bereichen müssen lernen, mit dieser Macht umzugehen. Dazu gehört auch die Einsicht, daß man sich der Medienmacht anpassen muß, aber nicht unterwerfen darf, und die innere Festigkeit, dieser Einsicht auch in kritischen Situationen zu folgen. Andernfalls führt der Opportunismus der Eliten zu dauerhaften negativen Nebenfolgen, unter denen alle zu leiden haben.

Laut Erhebungen tendiert die Mehrheit der Medienmacher zudem nach links.

Kepplinger: Ja und das war im Fall Fukushima/Landtagswahlen, der entscheidende Faktor. Nach der letzten Repräsentativbefragung unter Journalisten sind 35 Prozent Anhänger der Grünen, weitere 25 Prozent Anhänger der SPD. Zur CDU/CSU bekennen sich acht Prozent, zur FDP sechs Prozent. Weitere vier Prozent nennen andere Parteien oder keine Partei. Das heißt, wir haben unter den Medienmachern eine solide Mehrheit zugunsten linker Parteien. Da man davon ausgehen kann, daß die Anhänger der Grünen unter den Journalisten und die meisten Anhänger der SPD Gegner der Kernenergie sind, existiert eine breite Gegnerschaft zur Kernenergie im Journalismus. Eine Folge war die instrumentelle Aktualisierung von kontextfreien Katastrophenmeldungen, die ihre Sichtweisen bestätigten und das Ende der Kernenergie in Deutschland herbeiführen konnten.  

Was heißt das für bürgerliche Politik, zumal für eine eventuelle Sarrazin-Partei, über die seit 2010 spekuliert wird?

Kepplinger: Daraus folgt, daß konservative Politiker konservative Themen nach Möglichkeit nicht aufgreifen, weil sie zu Recht fürchten, damit in den Medien keine oder negative Resonanz zu finden. Die Möglichkeiten und Grenzen konservativer Politiker zeigt das Beispiel Sarrazin: Der Mainstream in den deutschen Medien hat seine Thesen von Anfang an abgelehnt. Dennoch ist der Versuch, ihn mundtot zu machen, fehlgeschlagen: Das wird von vielen Medienschaffenden als Niederlage empfunden. Nun versuchen die Wortführer unter anderem in Talkshows, diese Niederlage wettzumachen, indem sie Sarrazin nachträglich in Nebenbemerkungen abqualifizieren. Dies gleicht der Diskreditierung der DDR-Opposition als Pseudorevolutionäre, die nur unsere Bananen wollten, durch westdeutsche Intellektuelle 1989. Das ist die übliche Methode, mit einem Gegner umzugehen, der stärker ist, als gedacht: Er soll lächerlich gemacht und seiner Ehre beraubt werden. Das Thema Sarrazins wird damit aber nicht erledigt. Welchen politischen Ertrag sein Mut zur Provokation haben wird, werden wir erst in ein paar Jahren sehen. Wenn heute der Innenminister bei der Islamkonferenz Themen aufgreifen kann, die bis vor kurzem tabu waren, dann ist das auch ein Verdienst der Debatte, die Sarrazin angestoßen hat.

 

Prof. Dr. Hans Mathias Kepplinger, ist Kommunikationswissenschaftler an der Johannes-Guttenberg-Universität in Mainz. Kepplinger war zunächst Assistent am Institut für Publizistik von Elisabeth Noelle-Neumann und arbeitete eng mit ihr zusammen. Gemeinsam gehören beide zu den Wegbereitern der sogenannten Mainzer Schule, die die Wirkung von Medien analysiert. So widmete Kepplinger sich etwa den Themen politische Kommunikation, Eigengesetzlichkeit von Skandalen und dem Einfluß des Fernsehens auf die Entscheidung der Wähler. Er publizierte dazu zahlreiche Bücher, etwa „Die Demontage der Politik in der Informationsgesellschaft“ (1998), „Mechanismen der Skandalisierung. Die Macht der Medien“ (2001),  „Abschied vom rationalen Wähler. Warum Wahlen im Fernsehen entschieden werden“ (2005) und aktuell: „Realitätskonstruktionen“ (2011). Geboren wurde Kepplinger 1943 in Mainz. www.kepplinger.de

Foto: Erst Schlachtplatte, dann Einheitsbrei: „Ohne die Bereitschaft, für die eigenen Positionen einzustehen, kann man keine Glaubwürdigkeit gewinnen.“

 

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