© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/11 08. April 2011

Leben zwischen zwei Welten
Ungarn: Zu Besuch im Zigeuner-Gymnasium von Fünfkirchen / Elitenbildung fern der sozialen Wirklichkeit
Martin Schmidt

Das Gebäude der „Gandhi-Schule“ im Nordosten von Fünfkirchen (Pécs) ist großzügig angelegt und um einen modernen Neubau erweitert. Am Eingang wehen die grünblaue Zigeunerfahne mit dem Rad als Symbol des ewigen Lebenskreislaufs und der gemeinschaftlichen Wandertraditionen, die rotweißgrünen Farben Ungarns und das EU-Blau. Hier befindet sich das einzige Roma-Gymnasium Ungarns, das in- wie ausländischen Besuchern gern als Musterprojekt vorgeführt wird.

Die Ewartungen sind groß. Bestätigen sich die schwarzweißen Bilder von Zigeunerromatik und Romadiskriminierung? Doch statt einer oberflächlichen Propagandaveranstaltung gibt es eine Lehrstunde über das Selbstverständnis und die so ganz anderen Lebensvorstellungen dieser ethnischen Gruppe. Schon das Gespräch mit einem besonders begabten Schüler erschüttert erste Klischees. In bemerkenswert gutem amerikanischen Englisch erzählte uns der mit einem Stipendium für die USA ausgestattete 17jährige Bogdan Balasz, daß er Arzt werden möchte, jedoch nicht in Ungarn, da „Zigeuner dort nicht akzeptiert“ würden. Auf Nachfrage unterstrich er seinen Wunsch, als Zigeuner („gypsy“) und nicht als „Roma“ bezeichnet zu werden, denn ersteres impliziere das von ihm bevorzugte traditionelle Verständnis der eigenen Kultur.

Später erfährt man, Bogdan Balasz stamme aus einer gebildeten Familie und beide Eltern seien politisch aktiv. Sich in diesem Milieu als „Zigeuner“ zu deklarieren, verweise auf ein elitäres Bewußtsein. Ehrgeizige Schüler wie er hätten es in den Heimatdörfern allerdings besonders schwer, deshalb sei, so Balasz, „die räumliche Trennung von zu Hause gut“.

Richard Karsai, mit einer Roma verheirateter madjarischstämmiger Deutschlehrer an dem 1994 eröffneten Gymnasium, skizziert das Ziel, zu einer Elitenbildung unter den Zigeunern beizutragen. Diese stellten noch bis vor kurzem in Ungarn nur 0,01 Prozent aller Studenten. Statt großangelegter staatlicher Assimilationsversuche zu sozialistischen Zeiten verfolge man seit der Wende das Modell einer „freiwilligen Segregation“. Für das anfangs von einer privaten Stiftung getragene, inzwischen jedoch staatliche Gandhi-Gymnasium bedeute dies, so Karsai, daß die meist aus ärmlichen Verhältnissen kommenden Schüler „so akzeptiert werden sollten, wie sie sind“. Man lasse sie zwischen zwei Zigeunersprachen wählen – dem „Romani“ und einer archaischen Form des Rumänischen – und biete ihnen das Schulfach „Roma-Volkskunde“.

Aus Karsais Ausführungen wird rasch deutlich, welch komplexe Identität den unterschiedlichen Zigeunergruppen eigen ist. So hätten bei der letzten Volkszählung 2001 die Schwestern seiner Frau bei der Frage nach der Volkszugehörigkeit jeweils etwas anderes angegeben. In Ungarn gebe es drei große Zigeunergruppen: die romanisprachigen sogenannten „Vlach-Zigeuner“, die sich selbst „Roma“ nennen, die rumänischsprachigen „Beasch-Zigeuner“, die sich mit Vorliebe als „Zigeuner“ bezeichnen, sowie die als „Rumunru“ titulierten Ungarischsprachigen, die mit über 70 Prozent eine klare Mehrheit bilden und sich mal als „Roma“, mal als „Zigeuner“ artikulieren. Jede dieser Gruppen übe traditionell bestimmte Berufe aus. Auch wenn derartige Spezialisierungen zunehmend seltener würden, ließen sich zum Beispiel, so Karsai, noch immer besonders viele Pferdehändler unter den Vlach-Zigeunern ausmachen, und die „Beasch“ würden nach wie vor oft „Musiker-Zigeuner“ genannt.

Die Unterschiede der Großgruppen seien aber auf jeden Fall noch immer erheblich, ebenso die gegenseitigen Vorbehalte. So gelten die elitären Beasch in den Augen der anderen tendenziell nicht als echte Zigeuner, sondern als „schwarze Ungarn“. Während alle anderen Gruppen eine gemeinsame Hymne besäßen, hätten die Beasch ihr eigenes Nationallied. Nicht zuletzt weist Richard Karsai auf die erheblichen Interessengegensätze in der Minderheitenpolitik hin und betont: „Es gibt nicht nur weiße Rassisten, sondern auch braune und schwarze – und auch Zigeuner-Rassisten.“

Daß die Toleranz gegenüber bestimmten kulturell tief verwurzelten Verhaltensweisen der zur Zeit rund 250 Schüler in der Praxis schnell an Grenzen kommt, zeigt der weitere Verlauf des Gesprächs. So räumt Karsai ein, daß die Abbruchraten unter den Schülern zunächst sehr hoch waren. Von den 56 Schülern des ersten Jahrgangs hätten es ganze 18 bis zum Abitur geschafft. Heute sei die Situation „wesentlich besser“. Den charakteristischen Begabungen der Schüler in Fremdsprachen – neben der Zigeunersprache stehen Deutsch und Englisch auf dem Lehrplan – und im musischen Bereich stünden jedoch erhebliche Probleme in Disziplinar- und Eigentumsfragen gegenüber. So können die jungen Zigeuner laut Karsai „nicht leise sein“, und „Wörterbücher verschwinden immer wieder“, was aber hingenommen werden müsse. Viele Kinder seien aggressiv, weshalb man ein spezielles Antiaggressions- und Konzentrationstraining anbiete.

Deutschlehrer Karsai hebt zudem den sehr viel höheren Stellenwert von Kindern und dem Kinderhaben in der Zigeunerkultur hervor, um damit ein sozial- und bildungspolitisches Grundproblem zu verknüpfen: „Kinder, die als Kinder Kinder bekommen, haben dann keine sozialen Aufstiegschancen mehr!“

Eine gewisse Absonderung von der Herkunftskultur scheint der Preis für die Integration zumindest eines kleinen Teils der Zigeuner in die ungarische Mehrheitskultur zu sein. Von einer nachhaltigen Entfremdung will Karsai zwar nicht sprechen, verweist aber darauf, daß es in der Regel nicht zu einer Rückkehr der Schüler in deren oft für ein ganzes Leben maßgebliche Heimatdörfer komme. Typischen Eigenheiten dieses bildungsfernen Milieus, wie den häufigen Scheidungen, Arbeitslosigkeit, Alkoholismus und den sehr beengten Wohnverhältnissen, würden die Heranwachsenden so aus dem Weg zu gehen versuchen. Der Spagat zwischen Schutzraum Schule und Wirklichkeit gelingt nicht immer.

Dennoch überschreitet der Andrang auf die von der EU und dem Staat Ungarn finanzierte Eliteschule – es melden sich zwei- bis dreimal so viele Interessenten – deren Aufnahmekapazität.

Foto: Gandhi-Gymnasium In Fünfkirchen (Pécs): Für die einen das Tor zur Zukunft – für die anderen unerreichbar

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