© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/11 08. April 2011

Atomausstieg nicht in Sicht
Frankreich: Trotz der Katastrophe in Japan wird weiter auf Kernkraft gesetzt / 21 AKW älter als 30 Jahre
Norbert J. Breuer

Die Katastrophe in Japan hat auch in Frankreich spürbare menschliche Betroffenheit ausgelöst. Doch einer aktuellen Umfrage zufolge betrachten nur 27 Prozent der Franzosen Kernenergie als besorgniserregend. Mangels Tsunami-Gefahr herrscht Gelassenheit – nach dem Motto: Wenn ein schlecht gewartetes Automobil, das durch keinen TÜV mehr gekommen wäre, unter unwirtlichsten Witterungsverhältnissen einen schweren Unfall verursacht, bei dem etliche Insassen ihr Leben lassen, und man selbst besitzt moderne, gut gewartete Wagen – dann ist das doch kein Anlaß, das gesamte Autofahren in Frage zu stellen.

Doch stimmt der Vergleich? Europaweit sind 195 Meiler am Netz. Die 58 französischen Reaktoren sind auf 19 Nuklearzentralen verteilt. Sie beschäftigen rund 4.000 Mitarbeiter. 80 Prozent seiner Energie – nahezu fünfmal soviel wie Deutschland – erzeugt Frankreich durch Kernspaltung. 60 Prozent der öffentlichen Investitionen in Forschung und Entwicklung im Energiebereich werden dem Nuklearbereich gewidmet.

Hinzu kommt, daß Deutschland sich durch sein Atom-Moratorium vom Strom­exporteur zum Importeur gewandelt hat. Die Stromlücke, welche durch die acht vom Netz genommenen deutschen Kernreaktoren aufgetan wurde, schließen derzeit vor allem tschechische und französische Kraftwerke. Inzwischen importiert Deutschland doppelt soviel Strom aus Frankreich wie bisher.

Das Durchschnittsalter französischer Atomkraftwerke beträgt indes 26 Jahre. 21 sind sogar älter als 30 Jahre. Fessenheim im Elsaß ist dabei der Greis unter den französischen AKW. Es ist bislang auf 40 Jahre ausgelegt, doch der französische Energiegigant EDF soll die Laufzeit gar auf 60 Jahre ausdehnen wollen. Daß Fessenheim auf stark erdbebengefährdetem Terrain in der Rheinebene liegt, stört dabei offenkundig wenig.

Es gibt aber auch warnende Stimmen. So meint Martine Griffon, Vizechefin des Ingenieurdienstleisters Assystem: „Die Verlängerung kann nicht dergestalt erfolgen, daß man einige Apparate, wie beispielsweise den Dampfgenerator, austauscht.“ Und Jean-Marie Brom, Forschungsdirektor der CNRS, des französischen Pendants zur Max-Planck-Gesellschaft, meint: „Nein, man muß die AKW-Laufzeit nicht verlängern. Die Motivation ist doch vorwiegend wirtschaftlich unterlegt, um das Image der Atombranche im Ausland aufrechtzuerhalten.“ Brom: „Man weiß, daß die Physik ihre Grenzen hat, die man nicht überschreiten kann.“

Das mit vier Druckwasserreaktoren bestückte AKW Cattenom nahe der saarländischen wie luxemburgischen Grenze war 2007 der bedeutendste Stromerzeuger in Frankreich. Der Bau begann 1979, der kommerzielle Betrieb startete 1986 – und bis 2010 gab es 700 Störfälle. Im Saarland und Luxemburg nehmen angesichts des Fukushima-Desasters die Proteste zu: Cattenom sei zu alt, zu störanfällig, zu schutzlos. Der Stadtrat von Saarlouis schloß sich einstimmig einer Resolution der AKW-Nachbargemeinden Merzig, Mettlach, Perl und Rehlingen-Siersburg an. Man fordert die französische Regierung darin auf, für Cattenom jene Sicherheitsstandards zu praktizieren, die für die im März stillgelegten alten deutschen Atommeiler gelten.

Womöglich hat man sich in der 1680 vom französischen Sonnenkönig errichteten Stadt argwöhnisch daran erinnert, was man über das französische Ancien régime sagt: „Une règle rigide, une pratique molle“, also: „Strenge Regel, weiche Handhabung“. Ende März haben sich 36 luxemburgische Gemeinden entschieden, gemeinsam gegen das französische AKW Cattenom vorzugehen, via Petition und Unterschriftenaktion, die sodann in Paris unterbreitet werden sollen; juristische Mittel werden flankierend geprüft. Insbesondere die geplante Laufzeitverlängerung des ungeliebten Meilers stößt auf Widerstand. Am Ostermontag soll es in Cattenom vor Ort eine grenzüberschreitende Demonstration geben. Signifikant: In der deutsch-französischen AKW-Bürgerinitiative mit bislang 50 Mitgliedern sind 40 Deutsche. Der saarländische Ministerpräsident Peter Müller forderte, für Cattenom müsse ein Szenario mit dem Ziel eines „schnellstmöglichen Ausstiegs“ entwickelt werden.

Obwohl Frankreich das meistbereiste Land der Erde ist, entspricht es jedoch beileibe nicht der französischen Mentalität, sich um das Ausland (auch nicht das anrainende) allzuviel zu bekümmern. Die Franzosen pflegen seit jeher eine Art Inseldenken, ähnlich jenem der Briten. Ein ausgeprägter Nationalstolz kommt hinzu, weswegen man sich überaus ungern von außen hereinreden läßt.

So ließ denn passenderweise auch der Direktor von Cattenom, Stéphane Dupré-Latour, verlauten, die Proteste gegen das Atomkraftwerk seien „eine interne deutsche Angelegenheit“. Frankreich und Deutschland seien souveräne Staaten, die ihre Entscheidungen in der Energiepolitik verhandelten. Ins weniger Vornehme übersetzt heißt das: „Wir können bis zum letzten Zentimeter vor unserer Grenze machen, was wir wollen. Kümmert euch bitte schön um euren eigenen Kram da drüben im übrigen Europa. Punktum.“

Es ist daher kaum anzunehmen, daß Frankreich sich der deutschen Atompanik anschließt. Vielmehr wird man wohl ungerührt weiter auf Atomkurs fahren, auch wenn gewisse technikkontrollierende Zugeständnisse an die EU und die Nachbarn schlicht unumgänglich sein dürften. Nicht zu vergessen: Frankreich verdankt viele seiner zahlreichen ausländischen Investitionen – darunter 1.670 deutsche Firmenansiedlungen mit Niederlassungen an rund 5.000 Standorten – seinen merklich unter den deutschen liegenden Energiekosten.

Auch die berühmte deutsch-französische Freundschaft herbeizuzitieren, dürfte für die Atomausstiegsbefürworter wenig hilfreich sein. Sie ist für die Franzosen ohnehin eher eine kühle Rechenaufgabe, die vorwiegend auf Machtkalkül basiert. Und mit deutscher Besserwisserei wird man erst recht nicht weiterkommen. Wohl aber mit freundlicher und beharrlicher Überzeugungsarbeit: Dem verschließen sich Franzosen dauerhaft nicht.

Foto: Kernkraftwerk Cattenom in Lothringen: Strenge Regeln, aber weiche Handhabung – Deutsche und Luxemburger machen sich große Sorgen

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