© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/11 08. April 2011

CD: Brahms
Entfesselte Emotionen
Jens Knorr

Gleich mit ihrer energischen Intonation des Hauptsatzthemas bedeuten sie dem Hörer, daß es ihnen ums Ganze geht und daß sie dafür aufs Ganze gehen: Das Quatuor Modigliani und der Pianist Jean-Frédéric Neuburger spielen das Quintett f-Moll op. 34 von Johannes Brahms, eines der Schmerzenswerke des jungen Komponisten, ursprünglich Streichquintett, dann Sonate für zwei Klaviere, ehe er es letztgültig zu einem Klavierquintett formte. Sie spielen es nicht als Nachschöpfung, sondern als ihre Schöpfung, Ausdruck ureigener Empfindung, gefunden im Augenblick des Spiels. Sie spielen es mit vierfach potenzierter Leidenschaft, mit entfesselten Emotionen, derer man so pur sich wohl nur eine kurze Lebenszeit lang zu entäußern wagt, und schon gar nicht zu viert, den Pianisten eingerechnet zu fünft. Wie sie sich in das Adagio versenken, den zweiten Satz, wie sie die Doppelgesichtigkeit des Scherzos herzeigen und den finalen Taumel in den Abgrund auskosten, das klingt verdammt nach – kühl kalkulierter Überwältigungsabsicht.

Es ist die musikalische Gleichrichtigkeit der Modiglianis, welche alle anfängliche Reserviertheit des Rezensenten angesichts eines Designs (saga.illico, Nantes), wie für das Album einer alternden Boygroup berechnet, hinwegfegt. Es ist das arbeitsteilige Vorgehen der Modiglianis, die sich in die Zuständigkeiten für Körper, Seele, Esprit und Herz teilen, das alle Begeisterung dämpft und Skepsis bewirkt.

Der Aufstieg des Quatuor Modigliani, zu dem sich die vier Studenten des Pariser Conservatoire National Supérieur de Musique Philippe Bernhard und Loïc Rio, Violine, Laurent Marfaing, Viola, François Kieffer, Violoncello, im Jahre 2003 zusammenschlossen, hat etwas Unwirkliches. Nacheinander entscheiden sie drei wichtige Musikwettbewerbe für sich, Eindhover Internationaler Musikwettbewerb 2004, Musikwettbewerb Vittorio Rimbotti, Florenz, 2005, Young Concert Artists Auditions, New York, 2006. Sie gastieren auf den großen Konzertpodien der Welt, in der kommenden Saison als „Rising stars“ der ECHO, das ist die European Concert Hall Organisation. Ihre Einspielungen ziehen renommierte Preise auf sich, und zweifellos wird es auch mit dieser, ihrer neuesten, so gehen. Sie trägt den schlichten Titel „Brahms“.

Ihre Interpretation des Brahmsschen Klavierquintetts scheint weniger einem Diskurs im Sinne von Goethes berühmtem Diktum zur Kunst des Streichquartetts verpflichtet, als vielmehr dem Bedürfnis, sich spielend in wirkliches Leben einzufühlen, für die Musik, in der Musik – von der Musik? – leben zu können. Aber gehen sie mit dieser Haltung nicht an dem vorbei, was die Partitur, die sie spielen, sein will und von ihnen will, oder ist das eine, ihre, authentische Art, die Partitur von ihrem energetischen Zentrum her aufzumischen? Eingangs der bürgerlichen Aufklärung, die diese Kammermusikform hervorbrachte, hatte die Bewunderung attraktiver Solisten hinter dem Hören musikalischer Strukturen zurückzustehen. Zu ihrem Ende scheint’s sich wieder umzukehren.

Also: Weniger Neuromantik, mehr Brahms, weniger Rollenspiel, mehr Wahrhaftigkeit, weniger Face, mehr Gesicht! Und dringendst eine Überarbeitung der deutschen Übersetzung des französischen Textes im Beiheft!

Brahms, Quatuor Modigliani Mirare Mir 130  www.modiglianiquartet.com

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