© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/11 08. April 2011

Am nützlichsten waren die IM ohne schriftlichen Auftrag
Der Berliner Journalist Michael Müller untersucht den Einfluß von SED und DDR-Staatssicherheit auf Politik und Gesellschaft im Westen
Klaus Motschmann

Die langjährige Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Marianne Birthler, hat im letzten Tätigkeitsbericht anläßlich ihres Ausscheidens aus dem Amt beklagt, daß wir noch immer „weit davon entfernt sind, die DDR als einen wichtigen Bestandteil unserer gesamtdeutschen Geschichte“ wahrzunehmen; allenfalls als ein „Teil der ostdeutschen Regionalgeschichte“ oder aber – so darf man hinzufügen – im Zusammenhang mit den Legendenbildungen um die vermeintlichen „Entartungen des wahren Sozialismus“.

Zu der notwendigen sachlichen Auseinandersetzung, die hiermit angemahnt wird, liegt mit dem Buch des langjährigen Springer-Journalisten Michael Ludwig Müller ein gewichtiger Beitrag vor, der durch seine Erfahrungen im heiß umkämpften West-Berlin besonders besticht. In achtzehn Kapiteln von den SED-Angriffen auf die Vertriebenen, den prominenten Spitzelfällen über die Friedensbewegung und Nato-Doppelbeschluß bis hin zum Universitätsmilieu stellt Müller die vielfältigen Methoden und vielschichtigen Probleme der sogenannten „Bündnispolitik“ aller „friedliebenden“ Kräfte dar – teils aus dem unmittelbaren, persönlichen Erleben als politischer Redakteur der Berliner Morgenpost für Hochschulfragen und der 68er-Revolte, teils aus den sorgfältigen Recherchen einschlägiger Quellen.

Dabei wird deutlich, daß die Stasi aus einem reichen Erfahrungsschatz und aus stets aktuellen Quellen der sogenannten Informellen Mitarbeiter (IM) schöpfen konnte. Müller warnt allerdings davor, die Auseinandersetzung um den Einfluß der SED/Stasi auf die innere Verfassung der Bundesrepublik zu konzentrieren – so wichtig auch dieser Aspekt ist. Es ist richtig, daß Marx und Engels am Ende ihres Lebens eine ernüchternde Bilanz zogen. Sie gaben unumwunden zu, daß der „offene“ Kampf gegen das kapitalistische System offenkundig das erhoffte Ziel mit einem großen Schlag nicht zu erringen vermochte. Diese Erfahrung forderte zu einem radikalen Wechsel der Taktiken heraus.

Es bedarf keiner ausführlichen Begründung, weshalb die Strategie des „verdeckten“ Kampfes auch „verdeckte“ Taktiken erfordert. Von einer Entartung des Marxismus kann deshalb keine Rede sein. Zur Begründung ihrer Aussagen beriefen sich Marx und Engels auf einen Kernsatz des Kommunistischen Manifests: daß der Kampf gegen die kapitalistische Gesellschaftsordnung nicht nur „offen“ und über die Barrikaden zu führen sei, sondern auch „verdeckt“ – auf jeden Fall aber „ununterbrochen“ –, sofern es die politische Situation erfordert. Sie gaben unumwunden zu, daß der „offene Kampf“, zum Beispiel in Frankreich 1871, nicht zum erwarteten Ziel geführt habe und deshalb zu gründlichem Nachdenken über die bisherige Strategie und Taktik anregen sollte.

Ein Musterbeispiel dieses Grundprinzips revolutionärer Strategie und Taktik bietet das Parteiprogramm der KPD vom Juni 1945. Es handelt sich um eine nahtlose Anknüpfung an die Volksfrontpolitik der Sowjetunion in den dreißiger Jahren: also möglichst keine frontalen Angriffe auf das kapitalistische System über die Barrikaden, sondern eine aktive Bündnispolitik mit allen antifaschistischen und friedliebenden Menschen und Gruppen und immer wieder Bekenntnisse zu Demokratie und Frieden.

Zur Vermeidung von Mißverständnissen eine wörtliche Aussage: „Wir sind der Auffassung, daß der Weg, Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen, falsch wäre, denn dieser Weg entspricht nicht den gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen in Deutschland. Wir sind vielmehr der Auffassung, daß die entscheidenden Interessen des deutschen Volkes einen anderen Weg vorschreiben, und zwar den Weg der Aufrichtung eines antifaschistischen, demokratischen Regimes, einer parlamentarischen-demokratischen Republik mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das Volk.“

Was aber sollte konkret unter den Begriffen „Antifaschismus“, „Demokratie“, „Frieden“, „Grundrechte“ usw. verstanden werden? Und wie lange dauern die gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen? Friedrich Nietzsche hat einmal bemerkt, „daß in hundert Jahren der herrschen wird, der die Begriffe definiert“. So erklärt sich die intensive Auseinandersetzung im besetzten Deutschland um die gesellschaftliche und politische Neuorientierung, wobei sehr schnell das sogenannte Agenda-setting der Kommunisten festgestellt werden konnte.

Der sehr einfache, aber (bis heute!) bewährte und deshalb immer wieder praktizierte Trick war – und ist – die Diffamierung jeder gegnerischen Position als antikommunistisch, damit als mehr oder weniger faschistisch und deshalb bedrohlich für die friedliche und demokratische Neuordnung Deutschlands. In diesem Sinn bestand die politische Hauptaufgabe der sogenannten Friedensbewegungen darin, die Vier-Z-Regel der Stasi politisch umzusetzen: Das kapitalistische System nicht gewaltsam zu vernichten, sondern durch eine systematische Politik des Zerredens, der Zermürbung, des Zersetzens allmählich zu zerstören. 

Es gerät jedoch inzwischen mehr und mehr in Vergessenheit, daß allzu viele namhafte Persönlichkeiten im Westen – teils bewußt, teils unbewußt Hunderte – eine sehr nützliche Rolle im Sinn der Stasi-Taktiken spielten, gewissermaßen als IM ohne ausdrücklichen Auftrag und ohne Unterschrift: Künstler aller Art, Schriftsteller, Abgeordnete, Theologen oder Sportler, die nachweislich keine IM waren und sich von den Machenschaften der SED distanzierten. Sie spielten damit eine Rolle im Sinn des bekannten Bonmots Napoleons, daß diejenigen Agenten die besten sind, die es gar nicht wissen. Es ist richtig: Niemand ist vor dem Beifall von „falscher“ Seite sicher. Aber man sollte die „falsche“ Seite doch wenigstens als solche benennen dürfen und damit einen Beitrag zu einer glaubwürdigen Aufarbeitung auch dieser deutschen Vergangenheit leisten.

Michael Ludwig Müller: Die DDR war immer dabei. SED, Stasi und Co. und ihr Einfluß auf die Bundesrepublik, Olzog Verlag, München 2010, gebunden, 300 Seiten, 26,90 Euro

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