© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/11 08. April 2011

Anschwellende Volkskörper
Nährstoffreiches Essen stört unsere Energiebalance / Gehirn steuert Stoffwechselregulation
Guido Vollmer

An jeder Straßenecke appelliert die Welthungerhilfe auf Großplakaten mit ausgemergelten Kindern der „Dritten Welt“ an den Opfersinn deutscher Wohlstandsbürger. Das will nicht passen zu der Zahl, mit der zwei Lübecker Mediziner hausieren: Auf unserem Planten leben eine Milliarde Menschen, die als „übergewichtig“ einzustufen sind (Deutsches Medizinisches Wochenblatt, 11/11).

Nach aktuellen Schätzungen, so Felix Machleidt und Hendrik Lehnert (Universitätsklinikum Schleswig-Holstein), werde 2020 ein Drittel der weltweiten Krankheitsbelastung auf chronische, nicht übertragbare Krankheiten zurückzuführen sein, unter denen die etwas vulgär so genannte „Fettleibigkeit“ ganz oben rangiere. Das Phänomen ist nicht neu. Ebensowenig wie die im Rückblick burlesk anmutenden pharmakologischen Anstrengungen, die „Pille danach“ zu erfinden – nach dem Genuß von Pommes und Sahnetorte.

Machleidt und Lehnert nehmen von solchen Heilsverheißungen aus Da­niel Düsentriebs Hexenküche Abschied. Naturwissenschaftlich gesichert sei nach nunmehr 150 Jahren Forschung die führende Rolle des Gehirns bei der Stoffwechselregulation. Man wisse auch um die Funktion der Peptinhormone Insulin und Leptin, die ihnen bei der Appetitkontrolle und damit bei der Energiebalancierung des menschlichen Körpers zukomme.

Insulin, direkt ins Zentrale Nervensystem infundiert, senkt die Nahrungsaufnahme, steigert den Energieverbrauch, bewirkt Gewichtsverlust. Auf ähnliche Weise reduziert Leptin das Körperfett.

Auch der zentrale Wirkort dieser Hormone ist inzwischen bekannt: der Nucleus arcuatus (gebogene Kern) des Hypothalamus (Abschnitt des Zwischenhirns im Bereich der Sehnervenkreuzung), also jene Schnittstelle, wo „autonome, endokrine und behaviorale Signale der Stoffwechselregulation integriert“ werden. Hier enden die Erkenntnisfortschritte allerdings auch schon. Aus Tierexperimenten mit dicken und dünnen Ratten abgeleitete Hypothesen über gewichtsreduzierende Indikationen bestätigten sich bei Menschen nicht.

Was um so peinlicher ist, da die Dinge dann bis 2020 ungehindert ihren Lauf nehmen: Ein wachsender Teil unserer Gesellschaft vermag der gesteigerten Kalorienaufnahme nicht gegenzusteuern. Für die Wissenschaft bleibe lediglich, das fetttreibende Geheimnis der „Dysregulation“ als „Herausforderung“ zu begreifen. Der erhoffte „Durchbruch zur medikamentösen Behandlung“ sei jedenfalls bis heute ausgeblieben. Ob er bei den von Machleidt und Lehnert nicht einmal angesprochenen, gewiß unvermeidbaren „Risiken und Nebenwirkungen“ überhaupt wünschenswert ist, erscheint zudem äußerst fraglich.

Bleibt nur eine irgendwie konservativ gewandete Therapie. Um dem stetigen Wachstum des Taillenumfangs zu begegnen, müsse man bei den seit 1950 revolutionär veränderten Ernährungsgewohnheiten ansetzen. Vor dieser Zeit sei das Leben von einem Mangel an Nährstoffen geprägt gewesen. Eine Rolle rückwärts in jene ferne Vergangenheit wollen die beiden Lübecker zwar keinem Mitteleuropäer mehr zumuten. Aber mit dem bislang kultivierten Genuß hochkalorischer, leicht verfügbarer Nahrung („comfort food“), auf den unsere dysregulierten Körper anschwellend reagieren, sollte es, so ihr etwas hilfloser Befund, auch nicht mehr weitergehen.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen