© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/11 08. April 2011

Der Flaneur
Die schöne Garance
Josef Gottfried

Vorhang fällt, Licht an, wir erheben uns von den Plätzen, die Sitzflächen der Theaterstühle klappen hoch. Die schöne Garance läßt mir den Vortritt, heute sind wir zu zweit. Ich meine die getragene Baumwolle ihres Schals und das Nylon ihrer Strumpfhose wahrzunehmen und wehre mich gegen die Wirkung dieses Geruchs. Auf der Straße ist die Sonne, die uns vor der Aufführung schon einen Geschmack von Frühling gab, jetzt der Abendkälte und den Leuchtreklamen gewichen. Hemd und Sommermantel wärmen nicht mehr. Cafés, Läden, Menschen, wir.

Garance hakt sich nicht ein, sie geht so schnell, als ob sie es eilig hätte. Vor dem Café Puck bleibt sie plötzlich stehen und wendet sich mir zu. „Du weißt doch auch, daß wir die Kinder des Olymps sind?“ – „Ja“, lüge ich, denn ich weiß es nicht. „Gut“, sagt sie. Wir treten ein, sie trinkt ihre heiße Schokolade in einem Zug und ich messe die Ziehzeit meines Tees, bevor ich den braunen Zucker sorgsam einrühre, bis er sich auflöst.

Das Gesicht der Tasse zugewendet, blicke ich aus dem Augenwinkel zu ihr hin; sie ist blaß, jung, kurze Wimpern, voller Mund. Sie schaut auf die getrocknete Pfütze ihres Kakaos. Dann fängt sie an, mir Fragen zu stellen, die ich nicht verstehe. Es ist so viel, wirr vielleicht, zumindest aber chiffriert, dabei macht sie mir Komplimente und kommt dann zu einem seltsamen Schluß: „Die Vielfalt läßt uns irritiert zurück. Und verzweifeln.“

Ich erwache aus meiner Starre, denn auf diesen Punkt war ich vorbereitet. „Nein, finde ich, wir verzweifeln nicht! Damit würden wir all denen ins Gesicht spucken, die wirklich leiden. Keine empfindlichen Meßgeräte. Nichts Überkommenes. Nur wir und das Ganze.“ Ich kann Garance’ Stirnrunzeln nicht deuten. Versteht sie mich nicht, oder erhebt sie sich über mich? „Ach Josef“, sagt sie.

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