© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/11 15. April 2011

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Liberale Galeere in Seenot
Marcus Schmidt

Peter Sloterdijk sprach an diesem Abend sicherlich so manchem der sorgenvoll dreinschauenden Zuhörer aus der Seele, als er plastisch eine der „Urszenen“ der europäischen Freiheitsgeschichte schilderte: Jean-Jacques Rousseau läßt sich im Jahr 1765 in einem Ruderboot liegend auf dem Bielersee in der Schweiz völlig losgelöst treiben und erlangt dabei, so Sloterdijk, die „Freiheit eines Träumers im Wachzustand“. Kurz gesagt, dem Schweizer Philosophen war es damals gelungen, für einen langen Augenblick alle Sorgen und Bedrückungen zu vergessen und buchstäblich über Bord zu werfen. Sloterdijk deutete dies als die Geburtsstunde des modernen Individuums.

Daß sich viele der Zuhörer liebend gerne für eine Weile in das Boot auf dem Bielersee gewünscht hätten, um alle Sorgen zu vergessen, hatte einen einfachen Grund: Denn der Karlsruher Philosoph hielt in der vergangenen Woche auf Einladung der  FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung die 5. „Rede für die Freiheit“. Ausgerechnet auf dem (vorläufigen) Höhepunkt der existentiellen Krise der FDP, deren Abgeordnete und Funktionäre traditionell zahlreich zu diesem liberalen Großereignis in der vornehmen Hauptstadtrepräsentanz der Allianz am Pariser Platz erscheinen. Die anwesenden FDP-Politiker standen denn auch alle noch unter dem Eindruck des gerade besiegelten Rückzugs ihres Vorsitzenden Guido Westerwelle und dem Absturz ihrer Partei in den Umfragen auf drei Prozent. Sloterdijk sprach in seiner Rede, die passenderweise den Titel „Streß und Freiheit“ trug, daher auch von einer „Implosion der Liberalen“. Und er hatte noch weitere deutliche Worte für seine Gastgeber parat, die er elegant in seine philosophischen Ausführungen zum Freiheitsbegriff einfließen ließ. Das Wort Liberalismus stehe, so Sloterdijk, „leider zur Stunde eher für ein Leben auf der Galeere der Habsucht“. Ob es je zu einer „intellektuellen Regeneration des politischen Liberalismus“ kommen werde, ließ Sloterdijk indes offen.

Es war bezeichnend, daß die beiden ranghöchsten Liberalen an diesem Abend mit Wolfgang Gerhardt und Hermann Otto Solms zwei FDP-Politiker waren, die den Sturz Westerwelles wenn nicht mit Genugtuung so doch mit einer gewissen Gelassenheit verfolgt haben dürften. Gerhardt, nunmehr Vorsitzender der Naumann-Stiftung, war einst von seinem Generalsekretär Westerwelle von der Parteispitze verdrängt worden. Und der langgediente Parteisoldat Solms mußte während der Koalitionsverhandlungen nach der Bundestagswahl 2009 seine Hoffnung auf ein Ministerium begraben.

Die zahlreich anwesenden Bundestagsabgeordneten der FDP versuchten im Anschluß die prekäre Situation ihrer Partei entweder schönzureden oder übten sich in Galgenhumor. Ein Abgeordneter konnte halb im Scherz sogar der existenzbedrohenden Drei-Prozent-Umfrage noch etwas Positives abgewinnen. „Dieses Ergebnis hat auch etwas Gutes. Soviel wie wir in den vergangenen Monaten verloren haben, können wir jetzt gar nicht mehr verlieren“, sagte der Parlamentarier und lachte.

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