© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/11 15. April 2011

Gutbürgerliches Revoluzzertum
„Deutschland schafft sich ab“: Thilo Sarrazin provoziert mit seinen Thesen immer noch aufgeregte Reaktionen
Henning Hoffgaard

Keine Werbung, keine Hinweise. Nichts deutet am Dienstag auf den prominenten Gastredner der Industrie- und Handelskammer in Berlin hin. Thilo Sarrazin, Finanzsenator a.D. und erfolgreicher Buchautor, hat sich angemeldet. Gekommen ist die Hauptstadtpresse und die lokale Wirtschaftsprominenz. Auch der Chef der Partei „Die Freiheit“, René Stadtkewitz, ist dabei. Der normale Bürger hatte allerdings kaum eine Chance, Sarrazin zu hören. Die IHK bleibt lieber unter sich.

Und während die honorigen Herren drinnen noch gemeinsam frühstücken, haben sich vor dem Ludwig-Erhard-Haus schon drei Polizeiwannen postiert.Den angemeldeten üblichen Gegendemonstranten soll schon früh gezeigt werden, daß eine Störung der Veranstaltung mit allen Mitteln verhindert werden soll. Doch es zieht zunächst kaum mehr als eine Handvoll Gegendemonstranten in die Nähe des Zoologischen Gartens.

Als die Demonstration beginnt, hat sich Sarrazin schon durch Dutzende Zahlen, Fakten und Statistiken geredet. „Demographie, Einwanderung und die deutsche Zukunft“ ist sein Vortrag übertitelt. Es ist schwere Kost. Schritt für Schritt arbeitet sich der ehemalige Bundesbankvorstand durch die wichtigsten Kapitel seines Bestsellers „Deutschland schafft sich ab“, scherzt zuweilen und versprüht trotz des trockenen Themas einen Esprit, der sich nicht daraus speist, wie er etwas sagt, sondern, was er sagt.

 Dieser Hauch gutbürgerlichen Revoluzzertums verliert selbst dann nicht seine Wirkung, wenn er ruhig referiert, daß die Zahl der Deutschen jede Generation um 35 Prozent abnehme und gerade das intellektuelle Potential, also etwa die Naturwissenschaftler und Ingenieure, noch viel schneller schrumpfe. „Auf einen Arbeitnehmer kommt mittlerweile eine Person, die von diesem versorgt werden muß“, referiert Sarrazin, und Besserung sei nicht in Sicht. Die Politik habe Zuwanderung zum Allheilmittel erklärt, um alle Facharbeiter-, Pflege- und Demographielücken zu füllen, sagt er. Statt gut ausgebildeter Inder, Chinesen und Ostasiaten seien dagegen vor allem Araber, Türken, Nordafrikaner, kurz Muslime gekommen.

Um das in Zukunft zu verhindern, mahnt Sarrazin an, die drei wichtigsten Löcher des Zustroms zu schließen: Asylrecht, Familiennachzug und illegale Einwanderung. Denn während sich Vietnamesen und EU-Ausländer um eine möglichst gute Bildung kümmerten, gehe es Türken eher darum, ein gutes Leben zu führen. Im Zweifel eben mit dem Hartz-IV-Satz.

Seine Thesen stoßen bei den meisten Mitgliedern der IHK auf Zustimmung. Die Gäste, zumeist Funktionäre aus der Industrie und höhere Beamte, wirken regelrecht befreit, wenn Sarrazin das Berliner Bildungssystem kritisiert und die schlechten Leistungen von Abiturienten und Auszubildenden geißelt. Das wollte man hören. Applaus. Auf weniger Gegenliebe stößt der Ex-Finanzsenator dagegen beim Bündnis „Rechtspopulismus stoppen“, das vor der Tür mit Musik und beißendem Gestank vergeblich versucht, die Veranstaltung zu stören. 

Im Saale bleibt es bei einer kritischen Anmerkung: Sein Gerede über „Eugenik“ sei unwissenschaftlich, seine Ausführungen zum Islam durch Beispiele gelungener Integration ausgehebelt, kritisiert ein Zuhörer. Sarrazin kennt solche Anfeindungen. Er zitiert mehrere Wissenschaftler, die ihn stützen. Ob er etwas von dem zurücknehme, was er in den vergangenen Jahren gesagt oder geschrieben habe, wird Sarrazin gefragt. „Nein, ich nehme nicht ein Jota zurück.“ Nur bei einer Frage schwimmt er etwas. Warum er die Entwicklung nicht schon zu seiner Zeit im Staatsdienst angesprochen habe. „Nun ja“, damals habe er gedacht: „Da kann man ja eh nichts machen.“ Heute weiß er es besser: „Wir selbst entscheiden, ob wir etwas ändern können.“ Nur die Zeit laufe dafür langsam ab.

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