© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/11 15. April 2011

Pankraz,
Ai Weiwei und die Aufklärung in China

Pankraz ist noch nicht in Peking gewesen, um sich die dort mit Objekten aus den Kunstsammlungen von Berlin, Dresden und München bestückte Ausstellung „Die Kunst der Aufklärung“ anzusehen. Aber alles, was er bisher darüber gelesen hat, deutet auf eine große, von den deutschen Kuratoren durchaus gewollte Eurozentriertheit der Schau hin. Die „Aufklärung“ wird als ein genuin europäisches Phänomen dargestellt und mit den üblichen Klischees verziert: „Befreiung vom Dunkelmännertum“, „Geburt der Moderne“, „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ usw.

Sollte das wirklich der Fall sein, so wäre das – um das mindeste zu sagen – eine arge Verkürzung der historischen Perspektiven und eine ziemliche Uncharmantheit gegenüber den chinesischen Gastgebern. Denn wenn die europäische Aufklärung eines gewesen ist, so vor allem dies: ein geradezu schockartiger Reflex auf den Einbruch chinesischer Kultur ins Abendland, ein tiefgreifendes Neubedenken der eigenen Tradition unter dem Eindruck dessen, was man zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts aus China erfuhr.

Einige Dezennien davor hatte es, in Gestalt der sogenannten Jesuitenmission am chinesischen Kaiserhof, einen ersten geistigen Ausgriff Europas in das Reich der Mitte gegeben. Die Berichte Marco Polos und anderer Reisender im Mittelalter über ost-asiatische Zustände waren noch lässig als spannende Abenteuerberichte goutiert worden; was aber jetzt die Jesuiten aus Peking mitteilten, wühlte gerade die führenden Geister des Westens in tiefster Seele auf, übertraf es doch alles, was man in Renaissance und Reformation an neuartigen Herausforderungen zu verarbeiten gehabt hatte.

Die jesuitischen Gelehrten berichteten von einer, wie es ihnen erschien, „unermeßlichen Dichotomie“. Da war einerseits ein gewaltiges, seit Jahrtausenden blühendes Reich, mit raffinierter Kultur gesegnet, anspruchsvollen moralischen Standards, hochdifferenziertem Rechtswesen – und da war andererseits ein Reich „ohne Gott“, nur von Ahnenkult und dem Glauben an irgendwelche Kobolde durchpflügt, sonst „dem Nichts verfallen, das Nichts an die Stelle Gottes setzend“ (Jesuitenpater Grimaldi 1689).

 Wie war so etwas überhaupt möglich? Woher kam das viele Licht bei so viel gepredigter Finsternis? Voltaire, Montesquieu, Lord Shaftesbury, Leibniz, eben die sogenannten „Frühaufklärer“, nahmen sich der Fragen an. Insbesondere der alte Leibniz, der sich schon in jungen Jahren leidenschaftlich für die chinesische Sprache interessiert hatte, trat in intensivsten Briefwechsel mit den Pekinger Jesuitenmissionaren, und dieser Briefwechsel nebst mehrerer ihn begleitender Sonderschriften bildet ein wahrhaft einzigartiges Dokument europäischer Frühaufklärung.

Es geht darin nicht nur um die Aufhellung der durch und durch geistigen, letztlich religiösen Struktur konfuzianisch-chinesischer Weltvorstellungen, sondern auch um Fragen nach dem wahren Alter Chinas, seiner Literatur- und Wissenschaftsgeschichte oder um die Geheimnisse des Bergbaus und der Porzellanherstellung. Es wird erörtert, welche Schnittmengen der Korpus der Konfuziuswerke und das christliche Alte und Neue Testament miteinander haben und wie der Wissensaustausch zwischen Europa und China optimal organisiert werden könne.

Leicht ließe sich das Wirken von Leibniz (oder von Voltaire) in einer Ausstellung wie der Pekinger mit Kunstwerken (etwa mit berühmten Porzellanaufbauten) oder mit gezeigten Buchtiteln und dergleichen dokumentieren, aber wie Pankraz liest, werden in Peking nur ein Paar Schuhe von Immanuel Kant gezeigt, ausgerechnet von Kant, bei dem sich die (Spät-)Aufklärung zu jenem scharf anti-leibnizschen, extrem subjektivistischen Kritizismus vergröberte, mit dem die heutigen „Aufklärer“ nun hausieren gehen.

Epigonen plaudern die Schwächen des Meisters aus. Die kritizistische Wende bei Kant, verbunden mit diversen Auslassungen zeitgenössischer Plattköpfe à la Holbach oder LaMettrie, haben die europäische Aufklärung in den Ruf gebracht, ein bloßes Instrument europäischer Interessenpolitik und aufdringlicher Besserwisserei zu sein. Anmutiges Rokoko verwandelte sich in breitmäuliges Auftrumpfen, ein Auftrumpfen zudem, hinter dem, bei Lichte betrachtet, gar keine wirkliche Macht mehr stand, keine politische und keine wirtschaftliche.

So kann man schon verstehen, daß die Chinesen ausgerechnet von den Europäern keineswegs „aufgeklärt“ werden wollen, weder was Menschenrechte noch was Fragen der Meinungsfreiheit betrifft. Sie haben ihr Land aus eigener Kraft innerhalb einer einzigen Generation und mit überwiegend friedlichen Mitteln aus der blutrünstigen Mao-Diktatur in ein autoritäres Mandarin-Regime überführt, und sie haben gleichzeitig aus einem gigantischen marxistisch-ineffizienten Wirschaftsschlamassel einen National-Kapitalismus von höchster Effizienz gemacht. Das soll ihnen erst einmal einer nachmachen.

Mit der Freiheit hapert es freilich noch (doch wo hapert es mit der nicht?). Man darf gespannt sein, mit welchem Tempo sich die Mandarine auch auf diesem Feld freischwimmen werden, ohne das Gesicht zu verlieren. Sie sollten sich an Charles de Gaulle orientieren, der gesagt hat: „Einen Voltaire verhaftet man nicht!“ Der Pariser Staatsanwalt wollte damals Jean-Paul Sartre festnehmen lassen, weil der sich eindeutig gegen das Gesetz vergangen hatte, aber Präsident de Gaulle legte sich quer.

Er hielt, wie jeder hören konnte, Jean-Paul Sartre keineswegs für einen zweiten Voltaire. Aber er wußte eben, im Gegensatz zum Staatsanwalt, daß in einem halbwegs liberalen Land gewisse Geistesgrößen, ob wirkliche oder nur medial aufgebaute, einen operativen Freiraum in Anspruch nehmen dürfen, der sogar den Bereich der Gesetze berührt. Anders geht es nicht. Auch Ai Weiwei ist wahrscheinlich kein zweiter Voltaire. Doch die Mandarine müssen lernen: „Einen Ai Weiwei verhaftet man nicht.“

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