© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/11 22. April 2011

Freud und Leid
Freizügigkeit: Am 1. Mai endet die Übergangsfrist für Arbeitnehmer aus dem Osten
Albrecht Rothacher

Ein wichtiger Teil des Rechts in der Europäischen Union ist die europaweite Freizügigkeit für Arbeitnehmer. Die am stärksten betroffenen „alten“ Grenzländer Deutschland und Österreich hatten sich bei der Erweiterung im Jahr 2004, als Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, die Slowakei, Slowenien sowie Tschechien, Ungarn und Zypern der Union beitraten, eine siebenjährige Übergangszeit ausbedungen, deren Beschränkungen nun am 1. Mai auslaufen.

Andere EU-Mitgliedstaaten wie Schweden, Großbritannien und Irland haben von der ersten Stunde an Arbeitskräfte aus der östlichen EU ins Land gelassen. Sie kamen vor allem aus Polen – in erster Linie als tüchtige Handwerker, Bauarbeiter, Krankenschwestern und Gastronomen. Schwarze Schafe waren natürlich auch darunter. Viele jener Arbeiter werden im Zuge der britischen Rezession nach Deutschland kommen. Allein 2,3 Millionen Polen sollen in den vergangenen Jahren nach Spanien gegangen sein; doch auch dort sorgen die Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise – vor allen im Bausektor – eher für Abwanderung. Nach Südeuropa strömten in erster Linie Balkanbewohner als Erntehelfer in der Landwirtschaft. Zigeuner wanderten natürlich auch in großen Zahlen ein, allerdings nicht zum Arbeiten.

Der Präsident des Münchner Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, frohlockt über den zu erwartenden „absolut starken Effekt“, den die Arbeitskräfte aus den östlichen Nachbarstaaten für die deutsche Wirtschaft brächten. Ohne sie, so Sinn, drohe sich der momentane „Boom“ totzulaufen. Es sei also „gut so“, wenn in der nächsten Dekade Millionen kämen.

Gewerkschaftsvertreter wie Verdi-Chef Frank Bsirske fürchten dagegen Lohndumping und Tricksereien: „Ich kann mir gut vorstellen, daß auch deutsche Unternehmen in den EU-Beitrittsländern zukünftig Briefkastenfirmen gründen, um Arbeitnehmer beispielsweise zu polnischen oder baltischen Konditionen in Deutschland beschäftigen zu können“, unkte Bsirske gegenüber der Süddeutschen Zeitung. Auch würden viele Zuwanderer bereit sein, „zu niedrigeren Löhnen zu arbeiten, als sie in Deutschland üblich sind“.

Und auch Bayerns Sozialministerin Christine Haderthauer (CSU) zeigt sich weit weniger optimistisch. Sie vermutet, daß anstelle von Hochqualifizierten, für die in der Tat freie Stellen in der deutschen Wirtschaft vorhanden wären, Arbeitnehmer aus den Beitrittsstaaten eher in sogenannte „Einstiegsberufe“ strömen, die auch für deutsche Langzeitarbeitslose geeignet wären. Schließlich gebe es in Deutschland, gab Haderthauer zu bedenken, noch etwa vier Millionen Arbeitslose, und das Land nimmt im Vergleich mit anderen Staaten einen Spitzenplatz hinsichtlich der Anzahl „verfestigter Langzeitarbeitsloser“ ein.

Die Bilanz ist also gemischt: Einerseits gibt es verschärften Lohndruck und vermehrten Wettbewerb um Arbeitsplätze in geringqualifizierten Tätigkeiten. Auch dürften Kleinbetriebe der Bau- und Dienstleistungsbranche – vom Dachdecker bis zur Putzkolonne – enorme Probleme bekommen, mit den auf Ostlöhnen beruhenden Niedrigangeboten polnischer und anderer Wettbewerber mitzuhalten. Andererseits gibt es Wohlfahrtsgewinne für Häuslebauer, Pflegebedürftige, Bauern und städtische Verbraucher. Skeptisch stimmen dagegen die Erfahrungen der Grenzöffnungen nach 2004. Die Politik und ihre Jubelpublizistik versprach der Bevölkerung, es werde keine Eintrübung der Sicherheitslage geben. Tatsächlich aber stieg die Eigentums- und Raubkriminalität im grenznahen Bereich von Vorpommern bis zur Südsteiermark massiv an. Laut Polizeistatistik stiegen allein in den Bundesländern Brandenburg und Sachsen mit ihren Grenzregionen zu Polen und Tschechien die Autodiebstähle um jeweils über dreißig Prozent. Die meisten Täter operieren in Banden, die sich und ihre Beute stets jenseits der Grenze wieder in Sicherheit zu bringen suchen. Sofern sie Mittelosteuropäer sind, haben sie in aller Regel keinen Wohnsitz in Deutschland oder Österreich. Bei jenen, die sich bei uns mit einem geregelten Einkommen fest niedergelassen hatten, blieben kriminelle Neigungen dagegen fast ebenso gering wie bei der autochthonen Bevölkerung.

In der Summe könnten uns daher die neuen Einwanderer – denn die meisten werden bleiben – im Vergleich zu jenen aus der fremdkulturellen Türkei, dem Nahen Osten und Afrika, als akkulturierungsbereite und integrationsfähige Europäer und „Mit-EU-Bürger“ im Prinzip beinahe noch willkommen sein. Die Erfahrung der vergangenen Jahrhunderte zeigte, daß Einwanderer aus Polen, dem Baltikum, Böhmen, der Slowakei und Ungarn sich meist binnen einer Generation problemlos in die deutsche Leitkultur assimilieren und integrieren konnten.

Laszlo Andor, seines Zeichens EU-Sozialkommissar, schätzt die Einwanderung osteuropäischer Arbeitnehmer nach Deutschland in den nächsten vier Jahren auf jährlich 100.000. Die Hälfte davon soll aus Polen kommen. Solange die deutsche Wirtschaft weiter wächst, könnten diese Zahlen auch locker überboten werden.

Ob die große Auswanderung der mobilsten und qualifiziertesten jungen Männer und Frauen aber ihren Herkunftsländern wirklich nützt – oder vielmehr mittelfristig eher schadet, kämpfen sie doch ebenfalls mit großen demographischen Problemen, – das steht auf einem ganz anderen Blatt.

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