© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/11 22. April 2011

Wenn Linke an einem selbstverschuldeten Dilemma leiden
Europäische Einigung: Der Philosoph Jürgen Habermas spricht der EU einen demokratischen Charakter ab und wirft der politischen Klasse vor, sie entmündige die Bürger / Eine Replik
Heino Bosselmann

Die Stiftung Mercator und das „European Council on Foreign Relations“ hatten den letzten Groß-Denker der Linken, den Philosophen Jürgen Habermas, und deren letzten Groß-Politiker Joschka Fischer zu einer Debatte über „Europa und die Wiederentdeckung des deutschen Nationalstaates“ eingeladen. Eine gewollt polarisierende Themenstellung, denn so wie „Europa“ als politischer Pauschalbegriff immer nur positiv konnotiert ist, erscheint der „deutsche Nationalstaat“ dagegen als gefährliches Gespenst, das Habermas nun in einem neuerlichen Groß-Essay im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung (Ausgabe vom 8. April) beschwor.

Habermas und die intellektuelle Linke leiden an einem Dilemma: Rein phänomenologisch erfassen sie Probleme sensibel und genau, nur geraten sie mit deren Deutung in einen Selbstwiderspruch, weil sie es waren, die eine „europäische Integration“, also eine Einnivellierung nationaler Eigenständigkeiten mit ähnlichem Nachdruck forderten wie die Wirtschaft, freilich aus anderen, sich längst als illusionär erweisenden, quasi altmarxistisch internationalistischen Motiven. Erreichte die Wirtschaft das, was sie pragmatisch wollte, nämlich eine McDonaldisierung von Markt und Geld, kann die Linke im derzeitigen EU-Europa aber gerade nicht die Fleischwerdung ihrer demokratischen Heilsvorstellungen erkennen.

Die alte EWG stand für ein realistisches Bündnis von freien und souveränen Nationalstaaten, die einen Wirtschaftsraum bildeten. Die neue EU war dagegen immer begriffliche Demagogie, indem auf das wesentlichste Attribut, die Wirtschaft, verzichtet wurde, zu deren Gunsten Souveränitätsrechte abzugeben waren.

Habermas meint eine fatale Gegenläufigkeit von Ereignissen zu erkennen: Einerseits bejubelt er, daß in Baden-Württemberg „nach vierzig Jahren durch eine soziale Bewegung eine beinharte Mentalität gekippt wurde, auf die sich die industriefreundlichen Eliten bislang verlassen konnten“, andererseits muß er beklagen, daß in Brüssel für den Euro-Rettungsfond „hinter verschlossenen Türen ein Maßnahmepaket für wirtschaftspolitische Steuerung verabschiedet“ wurde. „Dem langfristig von unten erkämpften Mentalitätswandel dort stünde hier ein von den Finanzmärkten kurzfristig erzwungener Integrationsschub der nationalen Regierungen entgegen.“

So wie er das Revolutiönchen im Ländle verklärend überschätzt, erregt er sich zu Recht über eine europäische Fehlentwicklung, die jedoch von der Linken – gerade in Person des vormaligen Außenministers Fischer – forciert wurde, zum einen, weil die Linke dem Wirtschaftslobbyismus ebenso folgte wie alle anderen, zum anderen, weil sie der utopischen Annahme war, Europa wäre vom demokratisch eingestellten Citoyen und dessen Menschenrechtsvorstellungen viel wesentlicher bestimmt als von EU-Profiteuren.

Der Euro war das Danaergeschenk der Wirtschaft an die demokratischen Illusionisten. Und der Bürger sollte gar nicht gefragt werden, gerade dann nicht, wenn es bei der wirtschafts- und verfassungspolitischen Einrichtung Europas um seine existentiellen Belange ging, oder wenn zu erwarten war, er würde nicht zustimmen. Beides, Wesentlichkeit der Entscheidung und angebrachter intuitiver Zweifel daran, traf meist zusammen, vor allem beim desaströsen Euro und bei der verbastelten EU-Verfassung beziehungsweise deren Lissabon-Derivat.

Zu Recht bescheinigt Habermas der EU eine exekutive Dominanz, die gegenüber der vergleichsweise bedeutungsarmen Legislative und den nationalen Parlamenten ein Präjudiz nach dem anderen schafft, wenn in die Haushalte der Länder, insbesondere der Schuldner, hineinregiert wird. Habermas richtig: „Dieser Verdacht muß jede demokratische Glaubwürdigkeit zerfressen.“

Aber so war es schon von vornherein! Wenn überhaupt Referenden zum Verfassungsvertrag stattfinden durften – nur in Frankreich und den Niederlanden 2005 geschehen –, dann führten diese zu eindrucksvoller Ablehnung! So blieben schon eingangs nicht nur linke Demokratenwünsche unberücksichtigt, sondern überhaupt jede bürgerlich-liberale Forderung nach Legitimation, wie sie die europäische Aufklärung einst forderte und bürgerliche Revolutionen gegenüber Thronen durchsetzten. Warum dämmert es Habermas erst jetzt, „daß die europamüden Bevölkerungen unter gegebenen Umständen eine weitere Übertragung von Souveränitätsrechten selbst im Kernbereich der Union ablehnen würden“.

Der Philosoph wirft Deutschland vor, es habe sich nach der Wiedervereinigung „in Richtung einer stärkeren Selbstzentrierung“ verändert und einen „unverhohlenen Führungsanspruch“ entwickelt, der dem Land im „Bewußtsein eines verpflichtenden historisch-moralischen Erbes“ nicht zustünde. Allerdings: „Die neue deutsche Mentalität erklärt nicht die Tatsache, daß es bisher in keinem der Mitgliedstaaten eine einzige Europawahl und kaum ein Referendum gegeben hat, in dem über etwas anderes als über nationale Themen und Tickets entschieden worden ist.“ Also Schelte an alle: Die Deutschen blieben unverbesserliche Nationalisten, aber die anderen waren nicht viel besser, weil sie ihrem Länderinteresse folgten. Weshalb aber sollten mündige Bürger, wenn sie schon mal gefragt werden, sich nicht gegen die bürokratische Einnormung ihrer Volkswirtschaften aussprechen und ihr vaterländisches Erbe von Brüssel verwursten lassen?

Habermas erkennt die Politikverdrossenheit richtig als Spaltpilz der Demokratie. Er macht dafür nachvollziehbar einen „politischen Aggregatzustand“ verantwortlich, „der sich durch den Verzicht auf Perspektive und Gestaltungswillen auszeichnet“. Aber er romantisiert, wenn er sich vor diesem Hintergrund eine Bewegung von unten wünscht, für die er die letzte baden-württembergische Landtagswahl als Muster oder gar Fanal ansieht! Auch dort nämlich wurden jene gewählt, deren Politik genau die jetzige EU-Gestalt zu verantworten hat.

Sollte sich der Bürger noch einmal bewegen, dann kann er nur noch die Option wählen, die Habermas verteufelt, nämlich die Wiederentdeckung des Nationalstaats, in dessen Gestalt Griechenland, Irland und Portugal übrigens besser zurechtkämen, indem sie ihre Währungen noch selbst regulieren könnten und nicht mißgünstig als „Peripherieländer“ stigmatisiert und entmündigt würden.

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