© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/11 22. April 2011

Virtualisierte Welten
Anna log digital
Heino Bosselmann

Unmittelbar vor seinem Tod beschrieb der französische Philosoph Jean Baudrillard in dem so altersweisen wie schlanken Essay „Warum ist nicht alles schon verschwunden?“, wie die technische Virtualisierung und Digitalisierung nicht etwa die sogenannte Realität schwinden läßt, sondern vielmehr das Subjekt darin: „Am Ende dieses unaufhaltsamen Prozesses, der zu einem vollkommen objektiven Universum führt, das in gewissem Sinne das höchste Stadium der Realität darstellt, gibt es kein Subjekt mehr, niemanden mehr, um dieses Universum zu sehen. Diese Welt braucht uns nicht mehr, und unsere Vorstellung genausowenig – wobei im übrigen gar kein Vorstellen mehr möglich ist.“

Das Prinzip der durch Digitalisierung eintretenden Veränderung wird am Beispiel der Digitalfotografie illustriert. In der Neuartigkeit seiner Entstehung und Wandelbarkeit markiert das vom Negativ befreite Bild weltanschauliche Endpunkte: „Ende einer singulären Präsenz des Objekts, denn es kann digital konstruiert werden. Ende des singulären Moments des fotografischen Akts, denn das Bild kann unmittelbar gelöscht oder wieder zusammengesetzt werden. Ende des unabweisbaren Zeugnisses des Negativs.“

Baudrillard wettert nicht etwa technikfeindlich gegen den ihn durchaus faszinierenden Fortschritt im Informationszeitalter; er erkennt in der Digitalisierung der „Erlebniswelten“ eher einen dramatischen Wandel im gesamten Wahrnehmen, Denken und Handeln, der nicht nur ästhetische, sondern gesellschaftliche Veränderungen bedingen wird: „Mit der programmgesteuerten 0/1-Konstruktion, die eine Art Integralrechnung beziehungsweise integraler Berechnung darstellt, verschwindet die ganze symbolische Artikulation der Sprache und des Denkens. (…) Eine neue Sicht der Welt (monde), eine neue Weltanschauung, die der Globalisierung (mondialisation) selbst – alles wird ein und demselben Programm, sämtliche Bilder werden ein und demselben ‘Genom’ unterworfen.“

Baudrillard ist 1929 geboren, gehört also zu einer Generation, die unabweisbar mit Realien konfrontiert war, mithin lebenslang gefordert, zum Erlebten, das sie existentiell betraf, auf kritisch urteilenden Abstand zu gehen. Das ist Grundlage von Ortung und Positionierung.

Wer in der Gegenwart aufwächst, erlebt den Sieg der Virtualisierung über die Eigentlichkeit kaum mehr, weil ihm der Unterschied zwischen unmittelbaren Tatsachen und technisch vermittelten Vorstellungen weniger bewußt werden kann. Daß immerfort von Authentizität die Rede ist, mag freudianisch gerade ein Zeichen dafür sein, daß sie verschwindet.

So ist es ein Unterschied, ob der Mensch in einer ihm ursprünglichen Heimat aufwächst oder im „globalen Dorf“, in dem man dank informations- und verkehrstechnischer Möglichkeiten überall zu Hause sein kann – und es also nirgendwo ist.

Daß man an den Zielflughäfen in Wellington, Kathmandu oder Ushuaia genau dieselbe Objektwelt erwarten darf wie am Heimatflughafen, ist durch die Möglichkeiten der alle Welt einnivellierenden und uniformierenden Digitalisierung garantiert, die überall die gleichen Waren vertreiben und das gleiche Design entstehen läßt.

Die fade Ununterscheidbarkeit des Hier vom Anderswo wird vom modernen Reisenden geradezu erwartet. Echte Überraschungen dürften Reklamationen auslösen. Man bewegt sich in einem Kontinuum der einen, immer und überall gleichen Welt, in die nur noch die Klimate und die von ihrer ursprünglichen Aura befreiten „Sehenswürdigkeiten“ gefällige Abwechslung eintragen. Die „greift man ab“ und „nimmt man mit“, immer in der Illusion, man hätte etwas erlebt.

Das bei jeder Ankunft erwartungsgemäß gegenwärtige rotgerahmte Kühlregal mit je einer Etage Coca-Cola, Fanta und Sprite ist nur ein banaler Ausdruck für die Unmittelbarkeit desselben im Allüberall. Mittlerweile fliegt alle Welt, so wie sie früher Bus fuhr, weil der hart konkurrierende Markt Flugtickets trotz gewaltiger ökologischer Lasten zum Preis von Wochenkarten des Nahverkehrs anbietet. Der Respekt vor Entfernungen und Abständen ist ebenso dahin wie der vor anderen Kulturen.

Bildung gehört ebensowenig zur Voraussetzung des Reisens wie physische Belastbarkeit oder nur sinnliche Wachheit. Das einst Exotische gibt sich nur mehr folkloristisch entschärft kund, verbraucherfreundlich und possierlich. Reisen ist heutzutage meist reine Virtualität. Selbst das GPS-gestützte Navigationsgerät des Autotouristen hat alle Ziele digital einprogrammiert. Der Navigator hinterm Steuer braucht keine Landkarten lesen zu können; er ist relationsfrei in der elektronischen Karte verschwunden. Sich mit Auto-Atlanten zu orientieren wäre ein antiquiert analoges Verfahren der christlichen Seefahrt.

Kinder werden in der Regel auf den Rücksitzen von Familien-Vans groß, die Jüngsten sicher in TÜV-geprüfte Sitze geschnallt. Jahrelang kutschen die Eltern sie arretiert zu den verschiedenen „Aktivitäten“, also vormittags in die Schule, möglichst eine „Ganztagsschule“, dann zu allen Arten nachmittäglicher Zerstreuung. Was draußen an der Scheibe vorbeifliegt, ist für den kleinen Fahrgast ohne Interesse. Er ist zum Dauertransport verurteilt und blickt kaum hinaus.

Man fährt termingebunden immerzu irgendeinem vermeintlich tollen Ereignis entgegen und kann die fremde Welt draußen vernachlässigen wie eine Landschaftstapete. Kriterium für die nächste Veranstaltung ist vor allem der weitestgehende Schutz vor der Berührung mit dem Natürlichen und Echten.

In der Natur wohnt wieder der böse Wolf. Aber in der über eine Tageslänge internierenden Ganztagsschule erfolgt die Ausbildung wie in einem Terrarium, also geschützt hinter Sicherheitsglas, während der Nachmittag durchgeplanten Inszenierungen, Simulationen und nulligen Projekten vorbehalten bleibt, die harmlos sein müssen und so Zerstreuung und Spaß ohne Erlebnis- und Entwicklungsimpulse absichern.

Was einen nicht trifft, was nicht unter die Haut geht, was gefahrlos keinerlei Bewährung abverlangt und ohne die Übernahme von Verantwortung vor sich hin läuft wie ein Apparat, das wird im Eiapopeia des Gleichlaufs wieder vergessen, bedingt so aber das Erfordernis neuerlicher Animation und Reizung – wie eine Speise, die nie sättigt. Schnellste und praktikabelste Angebote bleiben daher Fernseher, PC und andere Mulitmediageräte. Mehr als deren Cyberspace-Panoptikum virtueller Räume, Klänge und Bilder bräuchte es zur Unterhaltung gar nicht, und die Bequemeren verlassen sich also ganz einfach nur darauf.

Man betrachte die beeindruckenden Spaßbäder und Thermen: Sie bieten auf symptomatische Weise allerlei Kurzweil, verzichten aber weitgehend auf das, was früher erst Anlaß für einen Schwimmbadbesuch war, das Schwimmen selbst nämlich. Das bleibt im tiefen Becken wenigen fitten Alterssportlern überlassen, die so etwas wie trainierende Herausforderung suchen, also etwas, das mit einfachem Spaß im Sinne von virtueller Unterhaltung kaum vereinbar ist. Insofern sind Schwimmerbecken beinahe leer, eine Reservation für eine Randgruppe, die noch selbst für ihre Bewegung sorgt, während der Rest von künstlich erzeugten weichen Wellen passiv gewiegt und bewegt werden will, denn wer bezahlt schon Eintritt in ein Event, für dessen Genuß er in sportlicher Selbstüberwindung noch selbst sorgen soll?

Abenteuer? Der größte Teil der Kinder erlebt sie nicht mehr selbst, sondern über virtuelle Stellvertreter am PC. Man muß nicht mehr auf Bäume klettern. Lara Croft oder Spider-Man klettern stattdessen, gelenkt durch den Joystick eines Kindes, das selbst noch niemals geklettert ist und es der gefährlichen Unwägbarkeiten wegen vielleicht nicht mal darf. Ein Joystick ist aber kein Trainingsgerät, an dem die eigenen Fähigkeiten wachsen; er dürfte eher zu den Auslösern für Adipositas gehören.

Mag der Hang zu Fantasy-Stoffen der Tendenz geschuldet sein, in der Realität immer weniger Faszinierendes auffinden zu können und daher in der Hyperrealität vermeintlich Grandioseres zu suchen? Wurde Harry Potter zum prägenden Helden einer ganzen Generation, weil er – im Gegensatz zu Tom Sawyer und anderen „realistischen“ Vorgängern  – alles Spannende und Abenteuerliche jenseits der Wirklichkeit in einem Reich virtueller Zauberei erlebte?

Weit über Computerspiele hinaus hält sich die Informationsgesellschaft aber viel auf ihre qualifizierenden Möglichkeiten zugute und mag insofern damit Recht haben, als daß ja tatsächlich zu jeder Zeit und an jedem Ort jede Information zur Hand ist, wenn man nur ein internetfähiges Handy mitführt. Phänomenal aber, daß diese Möglichkeit kaum Wirklichkeit impliziert, denn mindestens bei den schulisch Heranwachsenden führt die permanente und allgegenwärtige „Zuhandenheit“ von vermeintlichem Wissen nicht zu einer umfassenderen Bildung, sondern umgekehrt sogar zu einer Einschränkung, die Schüler und Studenten auf ein ptolemäisch verengtes Weltbild zurückzuwerfen scheint.

Wer nur virtuell „Daten zieht“, hat noch kein Wissen erworben. Der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann wies diesbezüglich auf eine wesentliche Unterscheidung von Information und Bildung hin: „Daten als solche stellen weder eine Information noch ein Wissen dar. Etwas wissen können – bislang zumindest – nur Menschen, indem sie Daten dem überhaupt erst einen Zusammenhang stiftenden Verfahren der Vernunft unterwerfen.

Die Verwechslung der Assoziation von Daten – modisch Vernetzung genannt – mit ‘Information’ und ‘Wissen’ bringt es auch mit sich, daß ein modernes multifunktionales Medium wie das Internet in seiner Bedeutung für das Wissen theoretisch und bildungspolitisch falsch eingeschätzt wird – mit dem Erfolg, daß die Propagierung dieses Mediums im Unterrichts- und Bildungsbereich nicht den Informations- und Datenfluß, wohl aber das Wissen einer Gesellschaft nicht befördern, sondern sabotieren wird.“

Selbst in der Wirtschaft hat die digitalisierte Virtualität die Tatsachen des Ökonomischen längst überwunden. Deswegen genießen Präsentation und „Corporate identity“, Prospekt und Erscheinungsbild Priorität gegenüber der Substanz von Maschinerie und Produktion. Sicher, es muß schon etwas „dahinterstehen“, aber wesentlicher sind das Outfit und die Art, wie man rüberkommt und wahrgenommen wird. Daran arbeiten ganze Stäbe von Beratern und „Kreativen“, deren Honorare das der redlichen Ingenieure weit übersteigen. Sie sind die teuer bezahlten Schneider für des Kaisers neue Kleider.

Letztlich die Politik: Hat sie ein Problem, dann ist es meist nur ein „Vermittlungs- oder Kommunikationsproblem“, also etwas, wofür wiederum Berater, Designer und Kampagnenmanager zuständig sind, die eine Idee vor allem ästhetisch zu transportieren verstehen und sie „kommunizieren“ sollen. Was in Wirklichkeit ist und wer nun eigentlich wie handeln muß, das erscheint sekundär. Aber wo Ästhetik, die sich digital besser bauen läßt als analog, die Ethik dominiert, dort wird es spätestens bedenklich.

 

Heino Bosselmann, Jahrgang 1964, ist als Lehrer für die Fächer Deutsch, Geschichte und Philosophie an einem Internatsgymnasium tätig. Zuletzt schrieb er auf dem Forum über Bildungspolitik („Humboldt als Krisenmanager“, JF 29/09).

Foto: Urlaub mit dem Laptop: Die digitale Revolution verändert nicht nur die Wahrnehmung, sondern auch die Lebensgewohnheiten

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