© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/11 22. April 2011

Wir brauchen Zeichen für den Sprachwillen
Regionalsprache und kein Dialekt: Die Zukunft des Niederdeutschen hängt auch von offiziellen sprachwürdigenden Symbolen ab
Dieter Stellmacher

Seit Anfang 1999 ist in der Bundesrepublik Deutschland das Gesetz zur Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen des Europarates vom 5. November 1992 in Kraft. Mit ihm erhalten die autochthonen Minderheitensprachen der Südschleswiger Dänen, der Lausitzer Sorben, der Friesen in Nordfriesland und im oldenburgischen Saterland sowie die Sprache der Sinti und Roma, das Romanes, einen staatlichen Bestandsschutz, in den auch das Niederdeutsche als Regionalsprache einbezogen worden ist. Und staatlicher Bestandsschutz heißt, daß der zu schützenden Sprache gewisse Anwendungsgebiete, etwa vor Gericht, zugesichert werden.

Juristisch einzufordernde Individualrechte begründet die Charta nicht. Auch bezieht sie sich nicht auf Dialekte einer Amtssprache. Das berührt einen Umstand, der hinsichtlich des Niederdeutschen immer wieder eine Rolle spielt: Ist es eine Sprache oder ein Dialekt? Letzteres meinen auch alle Übersichtskarten zu den deutschen Dialekten, wo etwa ein Drittel des Sprachraumes, in dem das Hochdeutsche als Amtssprache gilt, vom Niederdeutschen eingenommen wird – sprachgeographisch in die Dialekträume des West- und Ostniederdeutschen geliedert und diese wiederum in die Dialektverbände des West- und Ostfälischen sowie Nordniedersächsischen im Westen und des Mecklenburgischen, Vor- und Mittelpommerschen sowie Märkisch-Brandenburgischen im Osten.

Sprachwissenschaftlich gesehen sind aber auch Dialekte Regionalsprachen, ganz offensichtlich die, die im Vergleich zur Amtssprache über eine ausreichende sprachliche Distanz verfügen. Das ist beispielsweise beim Bairischen oder Alemannischen der Fall. Solche sprachlichen Unterscheidungen sind wohl der Grund dafür, daß die Charta die Sprachstatusfrage (Dialekt oder Hoch-Sprache?) ausklammert und sie der sprachwissenschaftlichen Fachdiskussion überläßt – denn: Sprachpolitik ist Politik und keine Wissenschaft.

Wie die mittel- und oberdeutschen Dialekte nehmen auch die niederdeutschen Sprachlichkeiten heute dialektspezifische Aufgaben wahr, und zwar als überwiegend mündlich gebrauchte und in vertrauten und familiär-freundschaftlichen Situationen verwendete Sprachen. Auf diese Weise entwickelten sich an die Sprachen gebundene Erfahrungen der sozialen Nähe, Gefühle des Freundlichen und Liebenswürdigen, auch des weniger Ernsthaften. Solche Zuschreibungen sind allen Dialekten eigen, bei den Amtssprachen werden sie oft vergeblich gesucht. Ein frühes Zeugnis dafür ist der Bericht des von Goethe geschätzten Heinrich Jung-Stilling (1740–1817) über einen Duisburger Pastor, der eine „plattdeutsche“ Ansprache hielt, die die Zuhörer so anrührte, daß sie in Tränen ausbrachen.

Moderne Verkaufsstrategen wollen herausgefunden haben, daß Kundenansprachen auf niederdeutsch eher zum Erfolg führen als auf hochdeutsch. Deshalb auch wird das Niederdeutsche, ungeachtet der rückläufigen Sprecherzahlen, immer häufiger symbolisch eingesetzt. Niederdeutsche Namen auf Ortstafeln (Aurich – Auerk, Großheide – Groot­heid oder Lütetsburg – Lütsbörg) sollen bei Touristen gut ankommen. Sprachgeschichtlich betrachtet ist das Niederdeutsche etwas anderes als beispielsweise das westoberdeutsche Alemannisch oder das ostoberdeutsche Bairisch. Es ist bis zum 16. Jahrhundert keine deutsche Sprache in heutigem Verständnis, sondern eine in ihrem Lautstand, ihrer Grammatik und ihrem Wortschatz, aber auch in ihren Verwendungsweisen eigenständige westgermanische Sprache.

Als Hansesprache war sie großräumig verbreitet und wurde amtlich gebraucht. Noch heute zeugen Bezeichnungen wie beispielsweise der Stadtturm „Kiek in de Kök“ im estnischen Reval (Tallinn) von diesem Erbe. Sprachmythologisch ist diese Geschichte in Norddeutschland immer lebendig geblieben, auch als man hier schon längst das Hochdeutsche bei allen offiziellen Anlässen und als Schriftsprache nutzte. Damit setzte eine Dialektisierung des Niederdeutschen ein und eine voranschreitende Sprachaufgabe. Niederdeutsch wurde zur nachrangigen Sprache. Gegen diesen Sprachwandel formierte sich Widerstand. Zuerst vereinzelt, dann immer massiver in Form von niederdeutschen Bewegungen, die im 19. Jahrhundert einen ersten Höhepunkt erreichten.

Die Voraussetzung dafür war der überall nach der 1848er-Revolution einsetzende Prozeß der Dezentralisierung, auch des kulturellen und literarischen Lebens. Es kam zu „einer neuen und vertieften Darstellung einzelner deutscher Landschaften. Ein bis dahin etwas abstrakt-literarisches Deutschland zerlegt sich jetzt in die konkrete Vielfalt seiner Provinzen, Menschengruppen und Landschaften“ (Hans Mayer). In Norddeutschland erfolgte das besonders nachhaltig, doch ohne je separatistische Gefühle oder gar solche Bestrebungen zu entwickeln.

Die Gegenbewegungen vollzogen sich im Rahmen von Vereinen wie dem 1870 gegründeten Hansischen Geschichtsverein oder dem vier Jahre später ins Leben gerufenen Verein für niederdeutsche Sprachforschung. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts wurden so wichtige Vereinigungen registriert wie der Quickborn (1904) und der Heimatbund Niedersachsen (1901), die bestrebt waren, die kulturelle Substanz Norddeutschlands zu bewahren und das niederdeutsche Selbstbewußtsein zu stärken. Dabei konnte auf beachtliche literarische Leistungen verwiesen werden, von denen der Mecklenburger Fritz Reuter (1810–1874) und der Dithmarscher Klaus Groth (1819–1899) nationale Bedeutung erlangten. Ihre Berühmtheit ermutigte zahlreiche Nachfolger, das Niederdeutsche ebenfalls als Literatursprache zu gebrauchen. Es entwickelte sich nach und nach eine quantitativ und qualitativ bemerkenswerte niederdeutsche Literatur.

Heute erscheinen jährlich etwa 200 niederdeutsche Bücher, wenig im Vergleich zur hochdeutschen Buchproduktion, aber mehr als jede andere Dialekt- oder Regionalliteratur vorweisen kann. Doch der beste Multiplikator niederdeutscher Literatur ist das Theater. Da sind einmal die in ihrer Geschichte immer professioneller arbeitenden Bühnen wie die von Richard Ohnsorg (1876–1947) in Hamburg 1902 geschaffene „Dramatische Gesellschaft“ (das heutige Ohnsorg-Theater), die Schweriner Fritz-Reuter-Bühne (1926 gegründet) oder die Niederdeutsche Bühne Oldenburg, die sich 1923 dem Staatstheater Oldenburg anschloß. Neben diesen Häusern widmen sich heute etwa vierzig Laienensembles in drei Landesbühnenbünden dieser Kulturarbeit und um die 500 Theatergruppen (Speeldelen). Mit heiteren und ernsten Stücken erreicht man ein großes Publikum.

Ein niederdeutsches Theater ist nur dann erfolgreich, wenn es genügend Besucher mit zumindest passiven Sprachkenntnissen gibt. Das stellt die Frage nach der Sprachbeherrschung, der die Sprachdemoskopie mit einer in Norddeutschland beachtlichen wissenschaftlichen Tradition nachgeht. Nach ihren Ergebnissen kann derzeit von mehr als zwei Millionen Sprechern des Niederdeutschen ausgegangen werden und etwa viermal so vielen, die es verstehen. Aber wie die Umfragen zeigen, nehmen die betreffenden Werte ständig ab. Gut und sehr gut beherrschen das Niederdeutsche in Niedersachsen, dem historischen Kernland dieser Sprache, 82 Prozent im Jahr 1939, 1984 kaum noch die Hälfte davon, 38 Prozent, und 2007 nur noch 14 Prozent.

Die Tendenz ist also eindeutig und schlösse einen absehbaren Sprachtod nicht aus, wenn es nicht Gegenläufiges zu beobachten gäbe, was unter dem Begriff des Kulturalismus zusammengefaßt wird: die zunehmende Institutionalisierung und Professionalisierung niederdeutscher Sprachpflege. Dafür ist der 2. Januar 1974 ein entscheidendes Datum: Das Institut für niederdeutsche Sprache e.V. nahm in Bremen seine Arbeit auf. Es ist eine die norddeutschen Bundesländer übergreifende Kultureinrichtung, die mit den traditionellen niederdeutschen Verbänden und der universitären niederdeutschen Forschung engen Kontakt unterhält.

Zu den nachhaltigen Erfolgen des Bremer Instituts zählen die Anstrengungen um die Aufnahme des Niederdeutschen in die Europäische Sprachencharta. Damit wird dem Niederdeutschen als erster Regionalsprache in Europa amtlich bestätigt, mehr als ein Dialekt zu sein. Das ist von sprachgeschichtlichem Belang, denn Amtssprachen werden immer über Standardisierungen „gemacht“. Natürliche Inhaber dieses Status gibt es nicht. Im Zuge solcher Entwicklung, die zeigt, was außersprachliche Einflußnahmen bewirken können, hat sich ein ganzes Netzwerk gebildet, das sich um das niederdeutsche Sprachwohl kümmert. Da sind plattdeutsche Länderräte und der „Bundesraat för Nedderdüütsch“, 2002 als Dachverband zur Durchsetzung sprachpolitischer Interessen geschaffen. Vier Jahre später hat man beim Bundesminister des Inneren den „Beratenden Ausschuß für Fragen der niederdeutschen Sprachgruppe“ eingerichtet.

Schon viel früher hat sich Niederdeutsch in der Kirche seinen Platz (zurück-)erobert. Als sich herausgestellt hatte, daß die Gemeinde niederdeutsch Vorgetragenes besser verstand als das Hochdeutsche, wechselte der holsteinische Pastor Claus Harms (1778–1855) zum Niederdeutschen über, um in Kieler Landgemeinden 1831 Vorschriften zur Bekämpfung der Cholera bekannt zu machen. „Es ging damit. Viel verständlicher (...), als wenn ich von dieser Sache hochdeutsch geredet hätte.“ So lag es nahe, die alte Landessprache auch in der volksmissionarischen Arbeit einzusetzen, was der Gründer der Hermannsburger Mission Louis Harms (1808–1865) ebenso tat wie Johannes Paulsen (1847–1916), der die Kropper Anstalten der Inneren Mission einrichtete.

Nach dem Zweiten Weltkrieg bildeten sich vielerorts „Preesterkrinks“ und vergleichbare Arbeitsgemeinschaften, die sich 1990 mit der Plattform „Plattdüütsch in de Kark“ einen Dachverband gaben. So bildeten sich in verschiedenen Lebensbereichen Strukturen, die eine niederdeutsche Sprachpolitik jetzt zu nutzen weiß. Ihr geht es heute vorrangig um Spracherwerbsmöglichkeiten, denn der eigentliche Weg über die Familie wird immer weniger beschritten. Plattdeutsche Lesewettbewerbe und „Tweesprakigheid in d’Kinnergaarn“, Aktionen wie in Ostfriesland „Plattdütsk bi d’Arbeid besünners för jung Lü“ sind solche Sprachförderungen. Begegnungen mit dem Niederdeutschen in verschiedenen Schulfächern und Projektunterricht in höheren Klassenstufen eröffnen der Sprache schulische Räume.

In einigen Hamburger Primarschulen wird seit 2010 Niederdeutsch mit ein bis drei Wochenstunden als reguläres Fach unterrichtet. Ob das alles ein kräftiges niederdeutsches Sprachleben sichern kann, bleibt abzuwarten. Ein freundliches und waches Umfeld ist auf jeden Fall für das Sprachwohl eine gute Voraussetzung. Und wenn norddeutsche Bundesländer ihre Landesverfassungen auch auf niederdeutsch vorlegen („Landesverfaten“), wie 1996 in Hamburg und dann später auch in Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Bremen und Mecklenburg-Vorpommern, dann sind auch das sprachwürdigende Symbole. Garantien für eine Zukunft der Sprache können sie aber nicht sein, doch Zeichen für einen Sprachwillen, den eine Sprache ebenso braucht wie Menschen, die Freude an sprachlichen Schönheiten haben.

 

Prof. Dr. Dieter Stellmacher lehrte bis 2005 Germanistik in Göttingen. Sein Lehrstuhl für die Niederdeutsche Sprache und Literatur ist seitdem verwaist. Von 1998 bis 2006 war er Vorsitzender der Internationalen Dialektologengesellschaft.

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