© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/11 22. April 2011

Das Schlachten der Besiegten
Gerade in den Rückzugsgefechten an der Ostfront 1944 wurden viele tausend Wehrmachtssoldaten nach der Gefangennahme ermordet
Stefan Scheil

Nur etwa fünf Prozent der deutschen Soldaten, die in den Jahren 1941 und 1942 in die Hände der Sowjetunion fielen, überlebten ihre Gefangenschaft, und auch die Überlebensquote der 1943 in Stalingrad Gefangengenommenen lag in etwa in diesem Rahmen. Hans-Joachim von Leesen hat in seinem Beitrag zu den deutschen Kriegsgefangenen in der UdSSR unter anderem darauf hingewiesen und dazu ergänzt, daß die Zustände im Jahr 1945 und nach Kriegsende etwas besser geworden seien (JF 13/11). Nicht eingeschlossen in diese Verlustzahlen sind allerdings die Toten während der Zusammenbruchskämpfe vor allem des Jahres 1944 und im Winter 1944/45.

Dabei kam es offenkundig zu Gemetzeln, deren Opfer nur schwer in Zahlen zu bestimmen sind, da sie weder als gefallen noch als gefangen registriert werden konnten, die aber ihre Spuren in der realsozialistischen Memoirenliteratur hinterlassen haben, so etwa in Milovan Djilas’ Berichten über seine Gespräche mit der Sowjetführung: „Nicht ohne Frohlocken skizzierte Konjew ein Bild von diesem letzten Debakel der Deutschen: Da sie sich nicht ergeben hatten, wurden achtzig- wenn nicht hunderttausend Deutsche auf engem Raum zusammengedrängt; dann vernichteten Panzer ihr schweres Material und die Maschinengewehrnester, während die Kosakenkavallerie ihnen den Rest gab: ‘Wir haben die Kosaken säbeln lassen, solange sie wollten. Sie haben sogar denen die Hände abgehackt, die die Arme hoben, um sich zu ergeben!’, erzählte der Marschall mit einem Lächeln.“ So wie hier Sowjetmarschall Iwan Konjew gegenüber Djilas den Abschluß der Schlacht im ukrainischen Korsun südlich von Kiew im Frühjahr 1944 schilderte, geriet an vielen Orten in der Sowjetunion die Schlacht zum Schlachten an den besiegten deutschen Soldaten.

Schon von Anfang an war es beim Rußlandfeldzug vorgekommen, daß versprengte deutsche Abteilungen bis zur Kompaniestärke, denen zwischen den Fronten die Munition ausgegangen war, bis zum letzten Mann getötet wurden. Ab 1944 gab es jedoch einen gewaltigen Sprung in der Zahl. Das Militärgeschichtliche Forschungsamt beziffert die Zahl der dabei ab diesem Zeitraum bis Kriegsende verschollenen deutschen Soldaten auf etwa 1,1 Millionen Personen. Als verschollen gelten dabei solche, die von der deutschen Seite nicht mehr als getötet, verletzt oder gefangen erfaßt werden konnten, es aber auch nicht bis zur Registrierung als Kriegsgefangene in der UdSSR schafften, sondern im Zusammenbruch irgendwie zu Tode kamen oder eben ermordet und verscharrt wurden.

In den 29 „Festen Plätzen“ zwischen Reval am Finnischen Meerbusen und Nikolajew am Schwarzen Meer, in denen sich im Sommer 1944 vor allem die Reste der Heeresgruppe Mitte im heutigen Weißrußland befehlsgemäß und praktisch auch alternativlos bis zur letzten Patrone verteidigten, fand offenkundig eine vielfache Wiederholung der Vorgänge von Korsun statt. An einzelnen Orten wie etwa im Raum Mogilew werden bis zu achtzigtausend deutsche Soldaten vermißt.

Erschreckend fällt dabei der Vergleich zwischen Ost und West aus, der eine Ahnung von der außergewöhnlichen Brutalität der Ereignisse in den Kämpfen mit der Roten Armee gibt. Verschollene gab es an allen Fronten. Sie sind in gewissem Umfang eine Begleiterscheinung der Kriegswirren, die nie eine lückenlose Bürokratie zulassen und des häufig unklaren Übergangs zwischen Kampf und Gefangenschaft, wo man, wie Ernst Jünger bereits in seinen „Stahlgewittern“ schrieb, an einem Platz schon Zigaretten austauscht, während man sich hundert Meter weiter noch erbittert gegenseitig ans Leben will und manche sich auf eigene Faust durchschlagen wollen. In den Jahren 1944/45 standen den etwa zweihunderttausend registrierten deutschen Gefallenen an der Westfront etwa fünfzigtausend Verschollene gegenüber. An der Ostfront übertraf dagegen die Zahl der Verschollenen die Zahl der registrierten Toten, die knapp eine Million erreichte.

Eine historische oder gar strafrechtliche Aufarbeitung dieser Vorgänge hat es in der Bundesrepublik nur in Ansätzen gegeben. Der Suche nach Begräbnisstätten oder Tätern fühlen sich staatliche deutsche Stellen kaum verpflichtet, soweit sie überhaupt möglich wäre. Noch immer sind daher deutsche Wehrmachtsangehörige in Millionenzahl verschollen, was allerdings auch an der geringen russischen Bereitschaft zur Unterstützung von entsprechender Aufklärungsarbeit liegt, obwohl sich genauere Aufklärung auch entlastend für Moskaus Ruf auswirken könnte. Theoretisch besteht die Möglichkeit, daß sich ein Teil der verschollenen Toten als Opfer regulärer Kriegsereignisse ermitteln läßt. Ende letzten Jahres öffnete immerhin das sonst streng gehütete Russische Staatliche Militärarchiv in Moskau außergewöhnlicherweise seine Türen für den Besuch von Medien der Republik Österreich, denn auch das Schicksal von einhundertdreißigtausend Österreichern ist noch ungeklärt, sowohl von Kriegsgefangenen wie Verschollenen.

Foto: Überlebende deutsche Kriegsgefangene der geschlagenen Heeresgruppe Mitte werden im Juli 1944 einem Spießrutenlauf durch das weißrussische Witebsk ausgesetzt: Über eine Million Verschollene

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