© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/11 22. April 2011

Der Flaneur
Froh im Leid
Josef Gottfried

Sonntag, kein Wind, es ist herrlich warm in der Sonne. Ich gehe so langsam durch die hundert Jahre alte Siedlung, daß ich ja nicht schwitze. Säufer sitzen vor der Trinkhalle, und ich schaue stur geradeaus. Im Augenwinkel meine ich zu bemerken, daß sie Interesse an mir zeigen. Aber ich bin froh, daß sie mich in Frieden lassen, bekomme Durst und kaufe mir eine Cola im Spätshop.

Als ich den Laden verlasse, die Dose an den Lippen und diesen süßen Geschmack im Mund, beginne ich über das Lächeln der vietnamesischen Verkäuferin zu grübeln. Der Laden roch nicht nach Kiosk, aber auch nicht nach Fernost. Ich nehme noch einen Schluck Cola, spüre die Kohlensäure am Gaumen und diese Süße, gehe ein paar Schritte und werde von meinen Gedanken über das Mädchen abgelenkt, weil mir ein Paar entgegenkommt.

Sie sehen nicht besonders aus: Er trägt Jeans und Trainingsjacke, ohne sportlich zu wirken; sie so etwas wie einen Hosenanzug, ohne elegant zu wirken. Es ist wohl ihr intensives Gespräch – er hört zu, sie redet mit leidend verzerrter Miene auf ihn ein –, das mich neugierig macht.

Sie sind zu weit weg, als daß ich sie hören könnte, aber es scheint eine ernste Angelegenheit zu sein. Eine Scheidung vielleicht, hohe Schulden oder der Tod eines nahen Verwandten, Dinge halt, die ernst zu nehmen sind und auch bei Unbeteiligten Betroffenheit erzeugen, so sie denn mit den Leidenden konfrontiert werden.

Wie sie so reden, kommen wir uns immer näher, bis sie merken, daß ich in Hörweite bin. Dann schweigen sie, bis ich sie passiert habe, ich soll ihr Gespräch nicht hören. Als ich zwei Meter an ihnen vorbei bin, zieht er ein tröstendes Fazit: „Sei froh, daß es so ist.“ Wie glücklich muß ein Leidender sein, wenn er doch froh sein kann, daß es so ist.

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