© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/11 29. April 2011

Unmut in den westlichen Provinzen
Parlamentswahl Kanada: Der konservative Stephen Harper liegt gut im Rennen / Populistische Wildrose Alliance im Tea-Party-Stil
Elliot Neaman

Kanada, dessen Name sich von einem irokesischen Wort für „Dorf“ ableitet, steht im Ruf, ein politisch stabiles, tolerantes Land mit kühlem Klima und warmem Herzen zu sein – Schweden mit einem britischen Parlamentswesen. Freilich unterscheidet sich die kanadische Sozialdemokratie in vieler Hinsicht grundlegend von ihren nordwesteuropäischen Schwestern. Denn im Gegensatz zu den skandinavischen Ländern ist die kanadische Bevölkerung alles andere als homogen. Bei der Volkszählung von 2006 wurden insgesamt über 200 Ethnien angegeben. 32 Prozent bezeichneten sich selbst als „kanadisch“, weitere 21 Prozent als englisch, 16 Prozent französisch, 15 Prozent schottisch, 14 Prozent irisch, zehn Prozent deutsch. 1,1 Millionen Kanadier gehören einem „First Nation“-Stamm an.

Die politische Kultur geht auf britische Traditionen zurück, hat aber seither eine recht eigenständige Entwicklung genommen, die an den demokratischen Wildwuchs erinnert, den schon Alexis de Tocqueville als Nordamerikas ureigenen Beitrag zur politischen Geschichte der Neuzeit ausmachte. Während sich in den USA nur zwei große Parteien etablierten, hat Kanada vier aufzuweisen: die Konservativen, die Liberalen, den separatistischen Québec Bloc sowie die New Democrats, die am ehesten mit der deutschen Linken zu vergleichen sind.

Auf der Ebene der Provinzialregierungen zeigt sich diese Vielfalt noch deutlicher – die französischsprachige Provinz Québec ist ein Beispiel. Weniger bekannt ist Alberta. Die Kornkammer im Westen Kanadas hat sich immer wieder als Unruheherd erwiesen. Mitten in der Großen Depression, noch vor den Erdölfunden der 1940er-Jahre also, gründete der Baptisten-Pfarrer William Aberhart dort die Social Credit Party, die den Sozialismus alteuropäischer Provenienz mit dem christlichen Fundamentalismus der Neuen Welt verbinden wollte. In einer Zeit, in der viele Bauern vor dem Ruin standen, stießen ihre Wahlversprechen – unter anderem ein Anrecht aller Bürger auf einen Anteil am Gesellschaftsvermögen – auf große Resonanz. Die Partei überlebte selbst das Debakel einer alternativen Währung, der sogenannten „Wohlstandszertifikate“, und konnte sich schließlich landesweit etablieren – ironischerweise am rechten Ende des politischen Spektrums.

Wie tief der Populismus bis heute verwurzelt ist, zeigt der Aufstieg der Reform Party in den 1980er Jahren. Sie entstand ursprünglich in den westlichen Provinzen als konservativer Protest gegen die Politik der Zentralregierung in Ottawa, der man vorwarf, den Separatisten in Québec und den Interessen des bevölkerungsstarken Ontario allzu hörig zu sein. In der Wildrose Alliance hat der Prärie-Populismus nun seine neueste Ausprägung gefunden. Parteichefin Danielle Smith, die von vielen als kanadische Sarah Palin gesehen wird, ist eine tatkräftige Journalistin und Wirtschaftslobbyistin. Ähnlich wie die Tea Party südlich der Grenze zieht die Wildrose Alliance vor allem konservative und libertäre Wähler an, die der Zentralmacht mißtrauen und mehr Mitbestimmung auf kommunaler Ebene fordern. In Québec hat die Begeisterung für derlei Gedankengut bereits zur Gründung einer eigenständigen libertären Partei geführt, die sich Quebec Freedom Network nennt.

Trotz des wachsenden Unmuts in den westlichen Provinzen und einer sich anbahnenden Umwälzung der politischen Landschaft in Québec, wo neuerdings die New Democrats unter dem in Québec aufgewachsenen Jack Layton beachtliche Erfolge feiern, hat der konservative Ministerpräsident Stephen Harper bei der Parlamentswahl am 2. Mai gute Aussichten auf eine Wiederwahl. Den letzten Umfrageergebnissen zufolge liegen die Konservativen mit 43 Prozent weit vorne, während die New Democrats die Liberal Party mit 24 zu 21 Prozent überholen könnten.

Harper regiert das Land seit 2006 mit einer Minderheitsregierung. Sollte seine Partei auch diesmal die Mehrheit verfehlen, dürfte er Schwierigkeiten haben, Koalitionspartner zu finden, nachdem er sich mit allen anderen Parteivorsitzenden zerstritten hat. Liberalen-Chef Michael Ignatieff, ein bekannter Politologe, der außerhalb Kanadas hohes Ansehen, im eigenen Land aber eher Mißtrauen genießt, hat über die Möglichkeit einer Koalition zwischen Liberalen, New Democrats und Québec Bloc spekuliert. Wenn seine Partei in der Wählergunst noch weiter zurückfällt, wird er sich damit indes schwerlich durchsetzen können. Für die ultralinken New Democrats wäre es die erste Regierungsbildung auf nationaler Ebene.

Harper profitiert von der guten Wirtschaftsentwicklung in den letzten Jahren. Der kanadische Dollar ist stärker als sein US-Pendant. Dank seines Reichtums an natürlichen Ressourcen und Rohstoffen – Getreide, Erdöl, Zink, Uran, Edelmetalle – hat Kanada sich schneller von der Finanzkrise erholt als andere Länder. Das Haushaltsdefizit ist auf 29 Milliarden Dollar geschrumpft, eine geradezu lächerliche Summe verglichen mit den USA. Freilich ist der Ölreichtum auch die Ursache für die Stärke der populistischen Bewegungen im Westen, die mehr Kontrolle über ihre Bodenschätze fordern. Die Bundesregierung in Ottawa kämpft seit jeher gegen die Zentrifugalkräfte, die das Land zu spalten drohen: den Separatismus in Québec in den 1970ern, die „First Nation“-Unabhängigkeitsbewegung in den 1990ern und nun den wirtschaftlichen und kulturellen Nationalismus im Osten und Westen.

Foto: Wildrose-Alliance-Chefin Danielle Smith (am Rednerpult) und Noch-Premierminister Stephen Harper (r.): Die kanadische Sarah Palin kann dem Premier vielleicht nicht gefährlich werden, setzt aber Nadelstiche

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