© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/11 29. April 2011

Komprimierte ethische Orientierung
Ein Handbuch zu Lebensschutz und Lebensrecht
Manfred Spieker

Die Lektüre der 45 Beiträge von 29 Autoren im aktuellen „Handbuch für Lebensschutz und Lebensrecht“ hinterläßt einen zwiespältigen Eindruck. Wissenschaftlich solide, ja großartige Beiträge und lesenswerte Erfahrungsberichte aus der Lebensschutzarbeit stehen neben einfachen Literaturberichten, Parlamentsprotokollen, Zeitungsartikeln und Interviews sowie einer Reihe von Beiträgen, über die der Rezensent am besten schweigt.

Da wäre weniger mehr gewesen. Gegliedert sind die Beiträge in fünf Kapitel: Lebensrecht, Abtreibung, Stammzellforschung, Euthanasie und ergänzende Nachträge. Die Perlen unter den 45 Beiträgen seien zuerst genannt. Herbert Tröndle, Ehrenvorsitzender der Juristen-Vereinigung Lebensrecht, einer der großen Kommentatoren des Strafgesetzbuches, der Generationen von Jurastudenten prägte, analysiert das Beratungsschutzkonzept des seit 1995 geltenden Abtreibungsstrafrechts und zeigt seine verheerenden Wirkungen für das ungeborene Kind einerseits und das gesellschaftliche Rechtsbewußtsein andererseits.

Der Beratungsschein ist für ihn eine Beihilfe zur rechtswidrigen Tötung des ungeborenen Kindes. Dementsprechend begrüßt er die Entscheidung der katholischen Kirche von 1999, sich an der nachweispflichtigen Schwangerschaftskonfliktberatung nicht länger zu beteiligen, und er kritisiert den Verein Donum Vitae, der sich im Hinblick auf den Beratungsschein immer noch der Illusion hingibt, er diene dem Lebensschutz. Tröndle verfaßte seinen Beitrag für die 2007 erschienene Festschrift zum 70. Geburtstag des Bayreuther Strafrechtlers Harro Otto. Die Herausgeber des Handbuches versäumen es leider, dies irgendwo zu erwähnen, obwohl Tröndle wiederholt vom „Jubilar“ spricht. Auch für die anderen Beiträge fehlen leider die Nachweise der Erstveröffentlichung.

Zu den Perlen des Handbuches gehören die beiden Beiträge von Robert Spaemann über den Hirntod und die Euthanasie. „Wir können Leben und Tod nicht definieren“, so Spaemann, „weil wir Sein und Nichtsein nicht definieren können.“ Mit der 1968 von der Harvard Medical School kreierten Hirntoddefinition sei erstmals überhaupt eine Definition des Todes eingeführt worden, die nur den Zweck hatte, der Transplantationschirurgie zu dienen (JF 29/10). Der Hirntod sei nicht der Tod des Menschen. Er bezeichne den Ausfall eines wichtigen Organs. Der Hirntote sei deshalb ein Sterbender, aber noch keine Leiche. Die Integration aller Körperfunktionen lasse sich sowenig allein im Gehirn lokalisieren wie die Seele.

Auch Manfred Balkenohl liefert noch einen Beitrag zur Kritik des Hirntodes, in dem die Rede von Papst Benedikt XVI. zum Thema Organspende vom 7. November 2008 leider nicht berücksichtigt wird. Spaemanns zweiter Beitrag „Es gibt kein gutes Töten“ entstammt dem von ihm und Thomas Fuchs 1997 herausgegebenen Buch „Töten oder sterben lassen? Worum es in der Euthanasiedebatte geht“. Spaemann zeigt darin die gesellschaftlichen Konsequenzen einer Legalisierung des assistierten Suizids. Für Alte und Kranke, die den Angehörigen, den Ärzten und Pflegern sowie der Gesellschaft zur Last fallen, wird „aus dem Recht zum Selbstmord (...) unvermeidlich eine Pflicht“.

Zu den Perlen des Buches gehören auch die Beiträge von Clemens Breuer über die Konsequenzen der Menschenwürdegarantie für die Schutzpflicht des Staates, von Trautemaria Blechschmidt über die Frage, ab wann der Mensch Person ist, von Axel Bauer über die Patientenverfügung, von Susanne Kummer über die Genderideologie und von Jürgen Liminski zur Familienpolitik. Breuer analysiert mit umfassender Literaturkenntnis die Menschenwürdediskussion in der Bioethik der vergangenen Jahre. Blechschmidt begründet die Überzeugung, daß der Mensch „Person in jeder Phase seiner Entwicklung“ ist. Bauer zeigt, daß das 2009 verabschiedete Patientenverfügungsgesetz „statt der erhofften Stärkung der Selbstbestimmung des Patienten in Wahrheit der Fremdbestimmung über nicht mehr einwilligungsfähige Menschen Tür und Tor geöffnet“ hat.

Susanne Kummer präsentiert die Entstehung und Entwicklung der Gendertheorien, die den Körper von Mann und Frau, „das biologische ‘datum’ in ein sozial konstruiertes ‘factum’ umgedeutet“ hätten. Sie zeigt überzeugend, daß der „Ausweg aus der Gender-Sackgasse“ in einer Deutung der Leiblichkeit als „Für-einander-da-sein“ liegt. Liminski schließlich liefert eine in flüssigem Stil und doch mit profunder Kompetenz geschriebene Kritik der Familienpolitik des vergangenen Jahrzehnts. Er zeigt die Instrumentalisierung der Familienpolitik für die Arbeitsmarktpolitik einer atomisierten Gesellschaft, die von Artikel 6 Grundgesetz nur noch den letzten Satz ernst nimmt: „Über ihre (der Eltern) Tätigkeit wacht die staatliche Gemeinschaft.“

Erfahrungsberichte aus der Lebensschutzarbeit in Politik und Gesellschaft liefern Mechthild Löhr, Hubert Hüppe, Claudia Kaminski, Manfred Libner, Thomas Schührer, Walter Schrader, Natanael Liminski, Peter Liese, Martin Kastler, Bernd Posselt und Roland Rösler. Liese und Kastler setzen sich im Europäischen Parlament für eine Verbesserung des Lebensschutzes ein. Liese zeigt, daß Deutschland im gesetzlichen Lebensschutz gar nicht so „isoliert“ ist, wie die Anwälte einer weiteren Aufweichung des Lebensschutzes in Deutschland gern behaupten, und Kastler gibt zu verstehen, daß aktive Familienförderung „langfristig angelegter Lebensschutz“ ist. Ein Glanzstück unter den Erfahrungsberichten ist jener von Rita Tsai, einer Schwangerenberaterin, die zeigt, daß das „Beratungsschutzkonzept“ den Frauen „das Recht auf den Schutz ihrer Schwangerschaft vorenthält“.

Hat das Handbuch auch Mängel? Leider nicht wenige – formale wie auch inhaltliche. Eine Reihe von Beiträgen ermangeln einer konsistenten Gedankenführung. Sie reihen Gedanken an Gedanken und der Leser fragt sich, worin die Logik liegt. Oder sie reihen Zitat an Zitat und liefern häufig unbrauchbare Belege. Unzulässig ist es auch, Autoren, die ausführlich und zum Teil seitenlang zitiert werden, gleich als Mitautoren des eigenen Beitrages zu vereinnahmen, obwohl sie für das Handbuch keine Zeile geschrieben haben.

Viele Beiträge enthalten Zeitangaben, die auf Vortragsfassungen zurückgehen („dieses Jahr“; „Anfang der Woche“; „seit vier Tagen“). Weder die Autoren noch die Herausgeber haben sich die Mühe gemacht, sie für die Drucklegung zu eliminieren. Das Abkürzungsverzeichnis ist nicht nur unvollständig (SCDF?), sondern auch fehlerhaft: mit DGGG ist nicht die Deutsche Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie gemeint, die in der Tat die gleiche Abkürzung benutzt, sondern die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe.

Das Autorenverzeichnis läßt jede Anleitung durch die Herausgeber vermissen. Werden die einen mit nur einer oder zwei Zeilen vorgestellt, so sind anderen bis zu 33 Zeilen gewidmet. Es fehlen eine systematische Gliederung und ein Literaturverzeichnis. Besonders störend ist, daß – sieht man vom Beitrag Tröndles ab – weder die Arbeit noch die Literatur der Juristen-Vereinigung Lebensrecht, wie die von ihr herausgegebene Zeitschrift für Lebensrecht, zur Kenntnis genommen wird. Daß die Kirchen in diesem Handbuch so gut wie gar nicht vorkommen, ist nicht den Herausgebern anzulasten. Die katholische Kirche macht in Sachen Lebensschutz und Lebensrecht – sieht man von wenigen Bischöfen ab – seit dem Konflikt um den Beratungsschein in der Schwangerenberatung einen gelähmten Eindruck und die evangelische fällt aufgrund der Divergenz ihrer Stimmen auch nicht ins Gewicht. In vielen anderen Ländern Europas oder in den USA wäre es jedenfalls nicht vorstellbar, daß sie in einem Handbuch für Lebensschutz und Lebensrecht so ignoriert werden.

 

Prof. Dr. Manfred Spieker lehrt christliche Sozialwissenschaften am Institut für katholische Theologie an der Universität Osnabrück

Manfred Balkenohl, Roland Rösler (Hrsg.): Handbuch für Lebensschutz und Lebensrecht, Bonifatius-Verlag, Paderborn 2010, gebunden, 683 Seiten, 36,90 Euro

Foto: Vermessung des Lebens: Frauen wird in den „Beratungen“ oftmals das Recht auf den Schutz ihrer Schwangerschaft vorenthalten

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