© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/11 29. April 2011

Bühne der Selbstdarstellung
Er wollte Repräsentant der Nation sein: Gerhart Hauptmann und das Haus Wiesenstein
Thorsten Hinz

In New York, behauptete Klaus Mann, würden Schriftsteller wie Stefan George und Gerhart Hauptmann einfach „ausgelacht“: Ein Seitenhieb auf die dichterfürstliche Attitüde der beiden, die ihnen in Deutschland Ansehen verschaffte, dem massendemokratischen Instinkt der USA aber zu widersprechen schien. Doch hatte Klaus Mann recht mit seiner Behauptung?

Zumindest verkannte er, daß beide Dichter modern, geradezu „amerikanisch“ agierten, indem sie ihr Charisma durch das Medium der Fotografie inszenierten und vermittelten. Hauptmann (1862–1946) galt als der meistfotografierte Schriftsteller seiner Zeit. Der Starkult bezog sich – gemäß der deutschen Kulturtradition – eben auf Dichter statt auf Schauspieler. Beide Autoren erleben zur Zeit eine wissenschaftliche und publizistische Renaissance, die weniger das Werk als die Wirkung beziehungsweise das Nachwirken ihrer Persönlichkeit in den Blick nimmt.

Peter Sprengel hat 2009 in dem Buch „Der Dichter stand auf hoher Küste“ Hauptmanns letzte, im Dritten Reich verbrachten Lebensjahre analysiert, und mit Spannung wird die Veröffentlichung der Tagebücher dieser Jahre erwartet. Einen besonderen Zugang hat nun Walter Schmitz mit einem opulenten Text-Bildband über das Haus „Wiesenstein“ in Agnetendorf im Riesengebirge eröffnet, das Hauptmann 1901 bezog und das von Anfang an eine Bühne seiner öffentlichen Selbstdarstellung bildete.

Das burgartige Haus war von dem Architekten Hans Grisebach entworfen worden, in dessen Berliner Stadtvilla heute das Auktionshaus Grisebach seinen Sitz hat. Es war für die Repräsentantion eines „dichterischen Wohnens“ konzipiert. Hauptmann, damals ein Enddreißiger, befand sich auf dem Höhepunkt seines Ruhmes und verfügte über enorme Einnahmen. Im bürgerlichen Sinne fest etabliert, lebte er gleichzeitig im Ehebruch: So verkörperte er ein fragiles Gleichgewicht zwischen Bürgerlichkeit und anarchischem Künstlertum, das – gewissermaßen im Schatten Goethes – durch das Dichtergenie legitimiert wurde. Das Haus manifestierte den Anspruch auf einen hohen gesellschaftlichen Rang, womit Hauptmann an Künstler wie Franz Lenbach und Richard Wagner anknüpfte.

Mitten in die schlesische Bergwelt gesetzt, demonstrierte der „Wiesenstein“ den Rückzug in die schöpferische Einsamkeit, die andererseits per Postkartenmotiv als öffentlich ausgestellt wurde. Zugleich bildete das Haus einen Fixpunkt in einem alljährlichen Reiseturnus, zu dem der Sommerurlaub auf der Ostseeinsel Hiddensee – wo Hauptmann 1930 ein eigenes Haus erwarb – sowie der mehrmonatige Winteraufenthalt in Rapallo gehörte. Ein weiterer ständiger Anlaufpunkt war Berlin, wo er standesgemäß im „Adlon“ residierte. In dieser dem Wechsel der Jahreszeiten angepaßten Ortswahl waren Gebirge und Meer, Nord und Süd, die ländliche und die großstädtische Existenz symbolhaft versammelt.

Die Symbolik setzte sich im Innern des „Wiesenstein“ fort: Die Deckenmalerei der über zwei Geschosse reichenden Wohnhalle illustrierte Motive aus Hauptmanns Büchern. Die vielen Gemälde, Grafiken, Bücher, Plastiken und Münzen, die in einem umfangreichen Katalog inventarisiert wurden, widerspiegelten ein universelles Bilder-, Bildungs- und Lebensprogramm. Hauptmann stellte sich der Öffentlichkeit als ein Repräsentant der Nation, als deutscher Nationaldichter vor.

Vorbild war Goethes Haus am Frauenplan in Weimar, das außer Lebens- und Arbeitsstätte auch Museum, Repräsentations- und Empfangsort war. Goethes Haus war ein Geschenk des Fürsten und stand, obwohl als Modell eines universellen Geistes ausgestaltet, im Schatten des Schlosses an provinziellem Ort, an den es den Dichter durch Zufall verschlagen hatte. Hauptmann, der sein Haus in die heimatliche Landschaft Schlesiens plazierte, bekannte sich damit  zu seinen biographischen Ursprüngen. Die Heimat war das Zentrum, von dem aus er seine Kreise in die Welt zog, und zugleich die Konkretisierung des Universellen. Hier versammelte er Artefakte der Familiengeschichte und seiner vielen Reisen. Ihre „auratische Gegenwart“ inspirierte ihn und bildete die „mystische Schutzhülle seiner Seele“. Schmitz spricht von „gebauter Transzendenz“, die er gehörig ins Foto setzen ließ und zu der er Besuchern gern Zugang gewährte. In den letzten zwei Lebenjahrzehnten wurde der „Wiesenstein“ – auch darin dem Goethe-Haus gleichend – zum Archiv des Hausherrn, wo ihm dienstbare Geister zur Hand gingen und die 1942 fertiggestellte „Ausgabe letzter Hand“ vorbereitet wurde.

Es ist verständlich, daß der inzwischen 70jährige Hauptmann nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten von seinem „Lebenshaus“ nicht lassen mochte. Der „Wiesenstein“ wurde zum Refugium. Sich dem Zugriff des Regimes völlig zu entziehen, war freilich nicht möglich, doch fand seine propagandistische Verwertung in durchaus subtiler Weise statt. Während des Krieges wurde das Leben auf dem „Wiesenstein“ als Modell kreativer deutscher Innerlichkeit herausgestellt und auch im besetzten Ausland verbreitet. Selbst jetzt konnte noch bei einem breiten Publikum der Respekt vor einem Repräsentanten des Geistes vorausgesetzt werden.

Allerdings war das Dichterideal, das Hauptmann zu verkörpern suchte, schon zu seinen Lebzeiten umstritten. Unaufhaltsam trat der kritisch-ironische Schriftsteller („Zivilisationsliterat“) und engagierte Intellektuelle an die Stelle des Dichters, der sich als Medium metaphysischer Einsichten begriff. Thomas Mann hat im „Zauberberg“ mit der Figur des Peeperkorn eine Karikatur Gerhart Hauptmanns geliefert: Eine ehrfurchtgebietende Gestalt, deren gestammelte Äußerungen im grotesken Gegensatz zur äußerlichen Bedeutsamkeit stehen. Doch inzwischen hat auch der moderne Intellektuelle sich gründlich widerlegt: als Scharlatan, Ideologe oder als Büttel der Macht. Die Enttäuschung darüber mag die aktuelle Hinwendung zu Stefan George und Hauptmann erklären.

Das Buch ist ein großes Lese- und Sehvergnügen. Der Verfasser schöpft kenntnisreich aus dem Fundus der Literatur- und Kulturgeschichte und vermeidet politische Besserwisserei. Lohnend wäre noch eine Auseinandersetzung mit Horst Bienek gewesen, in dessen „Gleiwitzer Tetralogie“ alle Vorwürfe gegen Hauptmann wegen seines Nicht-Exils und fehlenden Widerstands aufbereitet sind. Nicht erwähnt werden auch Hauptmanns frühe Ahnungen des drohenden Heimatverlusts, vor dem ihn in der Tat nur der Tod – er starb, die Vertreibung vor Augen, 1946 in seinem Haus – bewahren sollte. Am 6. Dezember 1940 war in der Zeitschrift Das Reich ein Artikel erschienen (wieder abgedruckt in Band IX der Centenarausgabe), in dem er vom „dauernden Alpdruck“ berichtete, den ihm polnische und tschechische Begehrlichkeiten bereiteten. „Vielleicht, so hatte ich mir zu sagen, mußt du einmal Haus und Herd verlassen, weil sie nicht mehr in deutscher Erde begründet sind.“  Trotz dieser Unterlassung durchzieht die Sehnsucht nach Heimat, nach einem lebensweltlichen Mittelpunkt, nach Kontinuität und Dauer das Buch wie ein geheimes Motiv.

Walter Schmitz: Das Haus am Wiesenstein. Gerhart Hauptmanns dichterisches Wohnen. Thelem Universitätsverlag 2010 (2009), kartoniert, 180 Seiten, teilweise farbige Abbildungen, 35 Euro

Foto: Haus Wiesenstein im niederschlesischen Agnetendorf: Universelles Bildungs- und Lebensprogramm

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