© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/11 06. Mai 2011

Pankraz,
Bin Ladens Tod und die Gerechtigkeit

Justice has been done“, sagte US-Präsident Obama in seiner Rede, in der er die Tötung des Terroristenchefs Bin Laden durch die CIA bekanntgab: „Die Gerechtigkeit ist (wieder-)hergestellt“. Hierzulande ist der Satz durchweg mit „Der Gerechtigkeit ist Genüge getan“ übersetzt worden. Es besteht da aber eine nicht unerhebliche Differenz. Obamas Originalversion beruht auf dem Bild der Waage, Untat und korrigierende Tat stehen da am Ende haarfein im Lot. Die deutsche Übersetzung hingegen betont die fortwährende schwebende Unwägbarkeit.

Gerechtigkeit, so bringt sie zu Bewußtsein, kann gar nicht „hergestellt“ werden, sie ist kein Zustand, nicht einmal eine Wirklichkeit, sondern allenfalls eine Möglichkeit. Man kann sich ihr nur annähern, ihr also nur „Genüge“ tun. Eindrucksvoll unterstrich das seinerzeit der historisch gewordene Schreckensruf der DDR-Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley, als sich nach der Wende 1989 die ersten Konsequenzen der deutschen Wiedervereinigung abzeichneten: „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat!“

Es war der Enttäuschungsschrei einer notorischen Idealistin, die zur Kenntnis nehmen mußte, daß auch im Rechtsstaat nicht alles streng nach den Sätzen ewiger, gleichsam göttlicher Gebote abläuft, ja daß gerade im Rechtsstaat, was die Gerechtigkeit und die Waage betrifft,  ausgesprochen kleine Brötchen gebacken werden. Beinahe möchte man manchmal seufzen: Die alten, archaischen, gleichsam „wildwestlichen“ Zustände mit ihren naiven Rachepraktiken, „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, waren der Gerechtigkeit näher, als es der moderne Rechtsstaat je zu sein vermag.

Nicht zuletzt gilt das für den justiziellen Extremfall, für Mord und Massenmord. Die Beobachtung, daß unerhörte, ruchloseste Mordtaten von eiskalt kalkulierenden Tätern vorbereitet und verübt werden, welche nicht die geringsten moralischen Skrupel kennen, und daß dann, wenn man der Täter habhaft wird, endlose Kriminalprozesse um sie herum veranstaltet werden, statt einfach nach der Devise „Rübe runter!“ zu verfahren  – diese Beobachtung verletzt zutiefst das spontane Rechtsempfinden. Jeder Staat, der hier „kurzen Prozeß“ macht, darf des allgemeinen Beifalls sicher sein.

Trotzdem bedarf es, findet Pankraz, nicht allzu vielen Nachdenkens, um zu erkennen, daß der Rechtsstaat dem „altehrwürdigen“ Racheprinzip in jedem Belang überlegen ist. „Die Rache ist mein, spricht der Herr“ (Römer 12/19). Rache und Gerechtigkeit sind nur bei Gott identisch. Die vom Menschen im Namen der Gerechtigkeit verfügten Vergeltungsmaßnahmen haben allenfalls Annäherungswert, und sie müssen deshalb ausführlich thematisiert und justifiziert werden. Jeder Täter, auch der allerschlimmste, hat einen natürlichen Anspruch auf möglichst unabhängige Richter, auf Prozeß und Urteilsverkündung, und das gilt auch für politische Diktatoren.

Man muß sie nach der  rechtsstaatlichen Regel fangen und vor einem ordentlichen Gericht verurteilen, darf sie nicht einfach umbringen. Daß dieses erstrangige Moralgebot aus dem Dekalog neuerdings auch von westlichen Kräften schlankweg suspendiert und von den zugehörigen Medien bewußt ignoriert wird, ist ein höchst bedrohlicher Vorgang. Man ruft geradezu nach dem Meuchelmord, organisiert staatlicherseits ausgedehnte Meuchelmordkommandos, feiert die Exekutoren als „moderne James Bonds“. Das wird mit Sicherheit zu bösen Häusern führen.

Selbstverständlich war der Fall Bin Laden ein Ausnahmefall, wie er bisher in der Geschichte noch nicht vorgekommen ist. Kein Staat forderte hier einen anderen heraus, sondern ein einziger Einzelner, ein selbsternannter „Gotteskrieger“ maßte sich mir nichts, dir nichts an,  einem Riesenstaat wie den USA „den Krieg zu erklären“. Und er ließ es mit der Erklärung nicht bewenden, sondern organisierte aus dem Dunkel heraus entsetzliche Mordtaten, die zum Himmel schreien. Da war offenbar einer, der sich außerhalb jeglichen Gesetzes gestellt hatte und den man abschießen mußte wie einen räudigen Hund. Wie gesagt, eine Ausnahme.

Aber Ausnahmen bestätigen nicht nur die Regel, sondern sie schaffen unter Umständen auch welche. Fast zur Regel geworden im 21. Jahrhundert ist ja bereits, daß demokratische Staaten irgendwelche „Schurkenstaaten“, deren Regime nicht ins Schema des Gutmenschentums paßt, unter irgendeinem Vorwand massiv angreifen, regelrecht überfallen, besetzen und verheeren. Das hatte seine Nachteile, doch es rollte immerhin noch im Rahmen überkommener Staatlichkeit ab und lieferte den Politologen so mancherlei Gelegenheit, das Problem staatlicher Souveränität in Zeiten der Globalisierung zu diskutieren.

Wenn das Beispiel der jetzt so glücklich beendeten Affäre Bin Laden Schule macht, könnte es bald zur willkommenen Vereinfachung der politologischen Wissenschaft kommen. Der Meuchelmord als bevorzugtes Mittel zur allgemeinen Durchsetzung der Menschenrechte ist ja weniger ein politologisches denn ein psychologisches Problem. Aber auch materielle Vorteile der neuen Strategie zeichnen sich ab. Statt teuren Rüstungsaufwands, Stealth-Bombern und Drohnenangriffen künftig nur noch relativ billige Meuchelmordkommandos! So ließen sich nebenher auch die Haushalte demokratischer Staaten entlasten.

Parallel zur Schlußaffäre Bin Laden lief in Libyen übrigens eine Aktion, die die neuen Strategien vorwegzunehmen schien. Die Nato, eigentlich laut Uno-Auftrag nur dazu da, um die  Flugverbotszone über dem Land zu sichern, griff statt dessen ein Haus in Tripolis an, um den sich dort aufhaltenden Tyrannen Gaddafi zu töten. Dabei war dieser Gaddafi doch einer der entschiedensten Gegner von Bin Laden und deshalb eher ein Verbündeter des Westens!

Doch das sind offenbar Feinheiten, auf die es im Zeichen des Meuchelmords nicht mehr ankommt. Die Nato freilich tötete aus Versehen nicht Gaddafi, sondern nur einen seiner Söhne. Man wird noch üben müssen.       

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