© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/11 06. Mai 2011

Futter aus der Gerüchteküche
Eine wissenschaftliche Analyse über Handlungen von Soldaten in Extremsituationen nutzen Medien zur Kollektivbezichtigung der Wehrmacht
Stefan Scheil

Sönke Neitzel und Harald Welzer wollen einen Schatz gehoben haben und die Leitmedien der Bundesrepublik wollen einen Skandal gefunden haben. Es geht um Abhörprotokolle deutscher Kriegsgefangener aus westlicher Gefangenschaft, die nach ihrer Ansicht endlich einen ungefilterten Blick auf den Kriegsalltag und die Psyche der Soldaten ermöglichen. Häppchenweise wird dies nun publiziert, zunächst vor einigen Jahren vom Historiker Neitzel allein mit Bezug auf deutsche Offiziere, nun zusammen mit dem Sozialpsychologen Welzer für ein breiteres Spektrum aller Dienstgrade. Für den Herbst ist schon das nächste Buch angekündigt, das dann auch italienische Abgehörte berücksichtigen soll.

„Verbrechen“ schreit die veröffentlichte Meinung, aber ganz dem akademischen Gestus verhaftet, verweisen die Autoren eher trocken darauf, menschliches Handeln sei nur bei Berücksichtigung verschiedener Referenzrahmen zu verstehen, in denen die Menschen handeln. Das seien im wesentlichen vier Bereiche, nämlich ihr allgemeiner kultureller Hintergrund, die aktuellen politisch-gesellschaftlichen Gegebenheiten, die konkreten Herausforderungen etwa beruflicher oder soldatischer Art und schließlich die familiären oder charakterlichen Vorprägungen.

Das klingt zugleich etwas verschwurbelt und banal, ist aber die Basis für den interessanten Versuch, das gefundene Material mit anderen Ereignissen abzugleichen, bei denen Menschen etwas Erstaunliches getan haben. Als ein erstes Beispiel führen Neitzel und Welzer die amerikanische Massenpanik nach der Meldung einer Invasion vom Mars an, die im Oktober 1938 im Zusammenhang mit einem Radiohörspiel von Orson Welles ausgebrochen ist. Mehrere Millionen Menschen hielten das für real und reagierten entsprechend. Meinungen schaffen Fakten und massenhaft präsente Meinungen können in Katastrophen münden, auf diese Ansicht legen die Autoren an vielen Stellen Wert.

An dieser speziellen Stelle hätten sie einen Blick auf die unmittelbare Ursache der US-Massenpanik werfen können, die ohne die damals von US-Radiosendern jahrelang laufende NS-Invasionsfurchtkampagne, die mit fiktiven Bombern, Fallschirmjägern und omnipräsenten „Nazi-Spies“ arbeitete, kaum vorstellbar gewesen wäre. Das Goebbels-Ministerium ließ sich die Gelegenheit auch nicht entgehen, die panischen Amerikaner als „von jüdischen Radiodämonen verhetzt“ zu bezeichnen. Für Neitzel/Welzer zeigt die Episode statt dessen nur, „was grundsätzlich der Fall ist, wenn Menschen sich zu orientieren versuchen“.

Diese Beschränkung ist typisch, denn bei ihrer Referenzrahmenanalyse haben die Autoren eines vergessen, und das ist der eigene Referenzrahmen. Sie schreiben, daß kein Bundesbürger beim Zeitungslesen darüber nachdenken würde, zu welchem Kulturkreis er gehört und wie das seine Einschätzung von richtig oder falsch beeinflussen kann. Das mag leider stimmen, sollte aber nun nicht auch noch für den Historiker gelten. Ihre bundesrepublikanische Sozialisation beeinflußt das Urteil der Autoren erkennbar sehr stark, ohne daß ihnen das ausreichend bewußt wäre. Daher glauben sie praktisch alles, was das seit den neunziger Jahren trotz des Fehlens jedweder empirischen Grundlage grassierende Gerücht über die Häufigkeit von moralischer Entgrenzung, Gewaltbereitschaft und Massenmord bei deutschen Soldaten bestätigen könnte.

Angesichts der dürren Quellenlage können sie allerdings auch kaum anders und müssen nehmen, was geboten wird. Von 16.000 Gesprächsprotokollen enthalten nach ihren Angaben ganze 0,2 Prozent, also lediglich knapp über dreißig, irgendwelche Hinweise auf Völkermord. So muß denn ein von einem Nicht-Dabeigewesenen aus dritter Hand kolportiertes Gerücht über eine Massenerschießung von fünfzehntausend Personen zum Beleg für ein Verbrechen genommen werden, auch wenn sie an einem von ihm genannten Ort stattgefunden haben soll, den es gar nicht gibt und den die Autoren hilflos mit einem Fragezeichen versehen. Dabei geht aus der Wortwahl noch nicht einmal genau hervor, ob es überhaupt ein deutsches Verbrechen gewesen sein soll oder aber einer der sowjetischen Massenmorde des Sommers 1941, deren Leichenberge dann von deutschen Soldaten vorgefunden wurden.

Null Komma zwei Prozent derartiger Bezugnahme auf Völkermord ist nicht viel, das wissen auch die Autoren. Sie fügen außerdem hinzu, solche Äußerungen seien überproportional aufgezeichnet worden und jeder auch nur indirekte Bezug sei mitgezählt worden. Unter diesen Umständen sind 0,2 Prozent eigentlich nicht wenig, sondern gar nichts. Dennoch, so setzen sie unverdrossen fort, müsse man von einem allgemeinen Mitwissen aller Wehrmachtsangehörigen ausgehen. Wieso man das „muß“, bleibt unklar. Wissenschaftlich behauptbar jedenfalls ist nur, was falsifizierbar, also durch Quellen belegbar und durch Quellen widerlegbar ist. Wer trotz fehlender Quellen ein Allgemeinurteil abgibt, der betritt den Bereich des Glaubens, in diesem Fall eher des Aberglaubens und da hilft dann auch der – mit Verlaub: alberne – Verweis darauf nicht, Heinrich Himmler habe schließlich auch nicht dauernd vom Völkermord gesprochen.

Daß ein deutscher Soldat einen Franzosen von hinten erschießt, weil er sein Fahrrad stehlen will, ist den Autoren eine unhinterfragt eingestreute Tatsache. Quellenkritik findet nicht statt, obwohl die Autoren wissen und im Anhang auch schreiben, daß gerade Verbrechensäußerungen im Auftrag des britischen oder amerikanischen Militärs zur Provokation von Selbstbezichtigungen gefallen sein können. Dem stehen dann geradezu erheiternde Passagen gegenüber, an denen den Autoren der Glaube verlorengeht. Ein Soldat will als Sechzehnjähriger seine Tischtenniskarriere aufgegeben haben, weil er „von so einem Judenjungen“ besiegt worden sei und danach der Ansicht war, das könne kein würdiger Männersport sein. Neitzel/Welzer finden das ohne weitere Erklärung „total unglaubwürdig“. Warum, so fragt man sich? Können jüdische Jugendliche ihrer Ansicht nach nicht Tischtennis spielen, oder hat etwa noch nie ein Jugendlicher nach einer für ihn peinlichen Niederlage seinen Sport gewechselt?

So sind dieses Buch und der Wirbel darum eher ein Ausdruck der gegenwärtigen bundesrepublikanischen Verhältnisse als eine wissenschaftliche Analyse. Die Presse hat sich auf einige griffige Zitate gestürzt, die passenderweise auf den ersten Seiten und dem Buchumschlag plaziert waren, so weit kommt auch der gewöhnliche deutsche Journalist. Garniert mit den üblichen Bildverfälschungen waren die Artikel schnell fertiggestellt; es waren fast überall die gleichen, ob in Bild (JF 18/11), Welt oder taz. Dabei ist es klar erkennbar überhaupt nicht das Anliegen der Autoren Neitzel und Welzer gewesen, die nächste Kollektivschulddebatte loszutreten.

Sie wollten eine wissenschaftliche Analyse vorlegen, warum Menschen unter extremen Verhältnissen bestimmte Handlungen ausführen. Weil das eine allgemeingültige Darstellung werden sollte, schließen sie mit aktuellen Vergleichen, etwa mit dem gezielten Tötungsverhalten amerikanischer Soldaten im Irak. Man ist geneigt, manchen Gedanken zuzustimmen, aber im wesentlichen haben sich Neitzel und Welzer doch in der Gerüchteküche des bundesrepublikanischen Referenzrahmens verlaufen.

Sönke Neitzel, Harald Welzer: Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2011, gebunden, 528 Seiten, 22,95 Euro

Foto: Hinrichtung serbischer Freischärler durch österreichische Truppen 1917, US-Soldaten 1968 im vietnamesischen My Lai, Hinrichtung eines sowjetischen Partisanen durch deutschen Offizier 1941, Folterung irakischer Gefangener durch US-Soldatin 2004, Stroßtrupp der Wehrmacht an der Ostfront 1941 (im Uhrzeigersinn): Menschliches Handeln ist nur bei Berücksichtigung verschiedener Referenzrahmen zu verstehen

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