© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/11 06. Mai 2011

Flug nach Nirgendwo
Vor 70 Jahren: Rudolf Heß, „Stellvertreter des Führers“, fliegt nach Schottland / Geheimniskrämerei und Mythisierungen halten bis heute an
Dag Krienen

Während die deutsche Luftwaffe einen massiven Angriff auf London unternahm, flog am 10. Mai 1941 eine einsame Messerschmidt 110 nach Schottland. An ihrem Steuer saß, in die Uniform eines Luftwaffenhauptmanns gekleidet, niemand Geringeres als Rudolf Heß, der „Stellvertreter des Führers“ und dritte Mann des Dritten Reiches. Heß hatte sich vorgenommen, Kontakt mit dem Herzog von Hamilton aufzunehmen, den er für das Haupt einer gegen Churchill arbeitenden britischen „Friedenspartei“ hielt, um ihn und seine Partei für einen deutsch-britischen Ausgleichsplan zu gewinnen.

Nach seiner Ankunft wurde Heß von den Briten sofort interniert und anschließend an wechselnden Orten gefangengehalten. Die Regierung in London hielt sich in der Folgezeit trotz der im In- und Ausland kursierenden Gerüchte mit öffentlichen und auch diplomatischen Stellungnahmen zu diesem Fall weitgehend zurück und legte einen Schleier des Geheimnisses darüber. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Einschlägige Aktenbestände sind bis 2017, die der britischen Geheimdienste sogar auf unabsehbare Zeit gesperrt. Zwischenzeitlich erfolgten zwar Teilfreigaben, gleichzeitig deutet vieles aber auch auf die gezielte Vernichtung wichtiger Aktenteile hin. Diese Geheimnistuerei hat immer wieder Spekulationen über Hintergründe und Motive sowie historische Bedeutung und Chancen des Heß-Fluges einen breiten Raum gewährt. Weitere Nahrung erhielten diese durch seine bis zum Tode 1987 dauernde Inhaftierung in Spandau sowie die sehr dubiosen Umstände seines Todes.

Die konventionelle Geschichtsschreibung sieht Heß als einen ins politische Abseits geratenen Gefolgsmann Hitlers an, der sich durch eine spektakuläre Aktion wieder in dessen Gunst setzen wollte, indem er persönlich – in völliger Verkennung der politischen Realitäten – die Grundlagen für einen deutsch-britischen Friedensschluß legte. Welche Reichweite die „Friedensmission“ von Heß tatsächlich hatte und welche welthistorische Chance sie bot, ist indes umstritten. Da Heß bei Dritte-Reichs-Romantikern seit jeher Kultstatus als ein NS-Parsival und „Märtyrer“ genießt, haben in Deutschland auf Etablierung bedachte Historiker meist Abstand davon genommen, sich näher mit dem Thema zu befassen – die wichtigste Ausnahme ist die Habilitation von Rainer F. Schmidt („Rudolf Heß – ‘Botengang eines Toren’?“) von 1997.

Anders sieht es im englischsprachigen Raum aus. Hier erscheinen im Jahresrhythmus neue Bücher zum Heß-Flug, die ohne Scheu danach fragen, ob dieser tatsächlich der Weltgeschichte einen anderen Verlauf hätte geben können, ein Verlauf, der nicht nur das Deutsche Reich, sondern auch das britische Weltreich vor der Zerstörung bewahrt hätte.

Dabei kreist die Diskussion um drei Fragenkomplexe: Zum ersten um die Reichweite und die Ernsthaftigkeit des von Heß in Schottland unterbreiteten Friedensangebotes. Gemäß den Aussagen der im Mai 1941 kurz mit Heß zusammengetroffenen Vertreter des britischen Außenministeriums und des Herzogs von Hamilton unterbreitete dieser damals nur die altbekannte Hitlersche Formel von der Teilung der Welt, das heißt Anerkennung der deutschen Oberherrschaft in Kontinentaleuropa gegen eine Garantie des britischen Empires. Dies war nicht nur für Churchill, sondern auch für die zum Ausgleich mit Deutschland neigenden Kreise im britischen Establishment nicht akzeptabel.

Doch tauchen immer wieder Berichte auf, daß damals von deutscher Seite weitaus mehr angeboten worden sei, wie die völlige Räumung West- und Nordeuropas und die Wiederherstellung eines polnischen Staates. Der Historiker Martin Allen (dessen Buch „The Hitler-Hess deception“ von 2003 der TV-Dokumentation „Geheimakte Heß“ von Olaf Rose und Michael Vogt von 2004 zugrunde lag) ist nur einer von vielen englischsprachigen Autoren, die von weitreichenden Friedensvorschlägen, die zumindest für einen Teil der britischen Führungsschicht akzeptabel gewesen wären, ausgehen. Ihre Quellen sind allerdings nicht über alle Zweifel erhaben. Dies trifft auch auf die in diesem Zusammenhang meist unterstellte Beauftragung durch Hitler zu. Heß selbst hielt stets daran fest, auf eigene Verantwortung geflogen zu sein.

Die Behauptung hingegen, daß der ganzen Heß-Affäre ein Komplott britischer Geheimdienste zugrunde lag, ist weit besser abgesichert. Auch der erwähnte Rainer Schmidt hält es aufgrund vielfältiger Indizien zumindest für plausibel, daß britische Geheimdienstoperationen die Existenz einer organisierten, zum Sturze Churchills bereiten friedenswilligen Opposition in Großbritannien vorzuspiegeln versuchten, um Berlin zu irgendwelchen kompromittierenden Handlungen zu bewegen. Wieweit diese „British Conspiracy“ (John Harris) direkt darauf abzielte, Heß in eine Falle zu locken, muß derzeit noch dahingestellt bleiben.

Über die letzten Zwecke dieser Machenschaften kann man nur spekulieren. Folgt man Allen, aber auch anderen britischen Autoren, wollte Churchill einen ranghohen deutschen Unterhändler in der „Friedensfalle“ fangen, um so jede Chance eines deutsch-britischen Friedens torpedieren zu können. Eindeutig belegen läßt sich dies trotz mancher Indizien nicht. Fest steht aber, daß die britische Regierung den Heß-Flug zu diffizilen diplomatischen Manövern nutzte. Gemäß Schmidt leugnete London demnach zwar offiziell jede Relevanz der Heß-Affäre, sandte aber subtile Signale aus, daß es eventuell doch eine einflußreiche britische Friedenspartei und insgeheime deutsch-britische Kontakte geben könnte.

Gerichtet waren diese Signale an die USA und die Sowjetunion, die jeweils ein großes Interesse daran hatten, die Briten weiter im Krieg zu halten. Die Amerikaner sollten so bewegt werden, ihre Hilfeleistungen an die Briten zu verstärken, die Russen dazu, eine härtere Haltung gegenüber deutschen Forderungen zu zeigen oder gar zum Angriff überzugehen. Als gesicherte Erkenntnis kann gelten, daß der Heß-Flug von der britischen Regierung zu machiavellistischen politischen Manövern genutzt wurde, die allein auf eine Ausdehnung des Krieges zum Weltkrieg zielten und nicht auf die Suche nach Friedenschancen. Die Einzelheiten werden sich allerdings auch hier, wenn überhaupt noch, erst nach der Öffnung aller Akten klären lassen.

Foto: Rudolf Heß 1933  (l.) und undatierte heimliche Fotografie während eines Spazierganges im Gefängnishof in Berlin-Spandau: Welche Reichweite die „Friedensmission“ von Heß tatsächlich hatte, darüber schweigen bis heute die Akten

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