© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/11 13. Mai 2011

Totes Kapital wird immer teurer
Wirtschaftsliteratur: Angesichts der anhaltenden Weltfinanzkrise werden Wege aus dem Laissez-faire-Kapitalismus gesucht / Plädoyer für ein neues Bretton Woods
Michael Wiesberg

Der deutsche Ökonom Wilhelm Hankel und sein US-Kollege Robert Isaak machen gleich auf der Rückseite ihres neuesten Buches deutlich, was ihrer Ansicht nach die Stunde geschlagen hat: „Die zügellose Weltfinanz und die gewaltige Finanzkrise, die sie erzeugt hat, drohen unserer Zivilisation ... ein Ende zu bereiten.“

Nun könnte man der Meinung sein, daß Thesen wie diese auch von einer Reihe anderer Autoren, die sich mit der Finanzkrise und deren Auswirkungen beschäftigt haben, in den Raum gestellt werden. Mit anderen Worten: Wo liegen die Alleinstellungsmerkmale dieses Buches, aufgrund derer sich dessen Lektüre dennoch lohnt? Da ist zum einen die wissenschaftliche Begründung und Breite der Darstellung, die, wenn man so will, die Bewegungsgesetze des heutigen Weltfinanzsystems und dessen Veränderungen seit Ende des Kalten Krieges allgemein verständlich ausleuchtet.

Dies geschieht unter weitgehendem Verzicht auf ökonomisches Fachchinesisch. Hankel, früher unter anderem Leiter der Abteilung Geld und Kredit im Bundeswirtschaftsministerium, und sein Mitautor Isaak, Universitätslehrer für Internationales Management in New York und Mannheim, wollen verstanden werden und bemühen sich deshalb in ihrer Argumentation um möglichst große Klarheit. Dabei kommt es allerdings immer wieder auch zu Redundanzen und Wiederholungen, die verzichtbar gewesen wären, den Wert dieses Buches aber keineswegs schmälern. Zum anderen – und spätestens hier endet die Überzeugungskraft bzw. die Kreativität vieler anderer Autoren – entfalten die beiden Autoren im letzten Teil des Buches ein klar umrissenes Reformprogramm für das internationale Finanzsystem.

Wie nun hat sich die Finanzwelt in den letzten Jahrzehnten verändert? Der Finanzsektor sei, so die Autoren, durch seine eigenen Innovationen „systementfremdet“ und die Geldwirtschaft „enthemmt“ worden; aus Banken seien „Handelshäuser“ geworden, „die mit Wertpapieren und Finanzanlagen spekulieren“. Dabei seien, Stichwort Derivate, die Risiken von Finanzinnovationen klar unterschätzt worden. Die Leistung des Finanzsektors bestehe heute vor allem darin, die Preise für „totes Kapital“, sprich: Aktien, Immobilien und Gold, in die Höhe zu treiben. Deshalb sei ein Ende des „globalen Laissez-faire“ unabdingbar.

Scharf gehen die Autoren vor allem mit den USA ins Gericht, die aus der Globalisierung einen „Kasinokapitalismus“ gemacht hätten. Motoren für die Entwicklung hin zu einer „enthemmten Geldwirtschaft“ sei unter anderem die Deregulierungspolitik der Ära des US-Präsidenten Ronald Reagan und der britischen Premierministerin Margaret Thatcher gewesen. Aber auch das Agieren von US-Notenbankchef Alan Greenspan, der alle Versuche, das „Derivate-System unter Kontrolle zu bringen“, abwehrte, hat im Zusammenspiel mit der Politik von Bill Clintons Finanzminister Robert Rubin erheblich zum Entstehen der Finanzkrise von 2008 mit beigetragen. Aus Sicht der USA könnten die Folgen dieser Krise nicht dramatischer sein: Schätzungen gehen davon aus, daß die Staatsschulden der USA 2020 bei „20,3 Billionen oder über 170.000 Dollar je privatem Haushalt liegen werden“.

Nicht viel ermutigender fällt die Analyse der Europäischen Union aus, deren „Fronvögte“ die EU „in Verkennung der Geschichte, Lebensweisen, Interessen wie Problemen der europäischen Völker für ein ... verspätetes US-Amerika halten“. Daß die Abschaffung der D-Mark nicht nur aus deutscher, sondern aus europäischer Sicht eine fatale Entscheidung war, weil damit der „Stabilitätsanker“ verloren gegangen ist, ist ein oft vorgebrachtes Argument, das die Autoren (Hankel klagt derzeit mit Fachkollegen gegen die Griechenlandhilfe und die Euro-Rettungspakete) aber zu vertiefen und zu substantiieren wissen.

Die Umwidmung der Euro-Währungsunion in eine „Haftungsgenossenschaft der Eurostaaten“ ist vor diesem Hintergrund nur die letzte Stufe einer Fehlentwicklung, bei der „politische Illusionen“ über die „ökonomische Realität“ triumphierten. Auch deshalb fordern die Autoren ein „neues Bretton Woods“ (in Anlehnung an das bis Anfang der siebziger Jahre geltende internationale Währungssystem mit festen Wechselkursen und Gold-Dollar-Bindung).

An die Stelle des US-Dollars sollen als Reservewährung und als Abrechnungseinheit auf Zentralbankebene die Sonderziehungsrechte (SZR) des Internationalen Währungsfonds (IWF) treten. Die SZR werden durch einen Währungskorb wichtiger Weltwährungen definiert (JF 41/09). Damit eröffnet sich aus der Sicht des Euro-Kritikers Hankel eine weitere Option, nämlich daß der „europäische Sonderweg eines Euro-Subsystems“ durch die Integration in das neue Bretton-Woods-System obsolet und eine Liquidation der Währungsunion möglich werde.

Einen Gutteil ihrer Hoffnung setzen die Autoren dabei auf die wachsende Macht der BRIC(S)-Staaten (Brasilien, Rußland, Indien, China und eventuell Südafrika), die immer weniger bereit seien, den westlichen „Laissez-faire-Kapitalismus“ mitzutragen. Das „Bretton Woods II“, das Hankel und Isaak im Auge haben – basierend auf den Säulen Freihandel, feste Wechselkurse, kontrollierte Kapitalbewegungen und geregelte Zentralbankhilfen – soll auf dem unverwässerten, ursprünglichen Konzept des englischen Ökonomen John Maynard Keynes beruhen. Gerade die Abänderungen an seinen Vorschlägen hätten maßgeblich zum späteren Scheitern des Bretton Woods-Weltwährungssystems beigetragen.

Hankel und Isaak haben mit ihrem Buch, das sie übrigens den G-20 gewidnet haben, eine Diskussionsgrundlage geschaffen, die einen gangbaren „keynesianischen“ Weg aus der gegenwärtigen Malaise des Finanzsystems aufzeigt. Es bleibt deshalb zu wünschen, daß dieses Buch (die englischsprachige Ausgabe trägt den Titel „Brave New World Economy. Global Finance Threatens Our  Future“ und ist bei John Wiley & Sons, New Jersey, erschienen) von möglichst vielen Politikern zur Kenntnis genommen wird. Möglicherweise fühlt sich der eine oder andere danach aufgerufen mitzuhelfen, den Irrweg zu korrigieren, den die EU mit der Währungsunion, aber auch das globale Finanzsystem insgesamt beschritten haben.

Wilhelm Hankel, Robert Isaak: Geldherrschaft. Ist unser Wohlstand noch zu retten? Wiley-VCH-Verlag, Weinheim 2011, 254 Seiten, gebunden, 19,90 Euro

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