© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/11 13. Mai 2011

Der Schillergruft entstiegen
Vom Flaneur zum „Tuschör“: Aquarelle des Schriftstellers Jürgen Hultenreich
Christian Dorn

Ich lese nur Schiller!“ Daß dieses so trotzig wie selbstbewußt vorgetragene Bekenntnis direkt ins Irrenhaus führen kann, weiß niemand besser als der Künstler Jürgen K. Hultenreich. Im ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden galt Schillers Satz aus den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen – demzufolge der einzelne „nur da ganz Mensch“ sein könne, wo er spielt – bloß begrenzt. Wer nicht mehr mitspielte, für den konnte die weitere Entwicklung unversehens zu einer auf Leben und Tod werden.

Die Vita des mit vielen Talenten gesegneten Autors Hultenreich – 1948 in Erfurt geboren, Jugend-DDR-Meister im Hochsprung und Stadtmeister im Schachspiel – ist dafür ein anschauliches Beispiel. Mit achtzehn Jahren hatte Hultenreich versucht, über die tschechoslowakische Grenze in den anderen Teil Deutschlands zu gelangen. Statt dem „Westausgang“, so die titelgebende Geschichte des 2005 erschienenen Bandes mit 64 „Storys“, sah Hultenreich einer Haftstrafe entgegen.

Im Prozeß hatte die Staatsanwältin auf ihre wiederholte Nachfrage, was der Angeklagte denn sonst noch lese, hartnäckig den Namen „Schiller“ zur Antwort erhalten. Hierauf verfügte das Gericht die Überweisung Hultenreichs in eine Irrenanstalt. Diese wahrhaftig wahnwitzige Episode schildert Hultenreich in seinem grotesken, autobiographischen Roman „Schillergruft“. Die Figur des Autors, sein Alter ego „Georg Hull“, findet sich am Ende in der Leichenhalle wieder, aus der es – eher zufällig – doch noch ein Entkommen gibt. Der DDR selbst entkam Hultenreich, der einst den Beruf des „Schaufensterdekorateurs“ erlernt hatte, als er Mitte der achtziger Jahre – nach wiederholten Ausreiseanträgen – binnen weniger Stunden nach West-Berlin abgeschoben wurde.

Seither ist er im Bezirk Wedding zu Hause. Den sich dort abzeichnenden Prozeß ethnischer Verdrängung durch die sich manifestierenden Parallelgesellschaften hielt er bereits vor über einem Jahrzehnt in einem Sittengemälde für die Zeitschrift Gegengift fest – minutiös wie kein anderer deutscher Autor. Dieser unverstellte Blick auf die Wirklichkeit war es auch, der Hultenreich schon bald nach seiner Übersiedlung bei den tonangebenden Linksintellektuellen unter Generalverdacht hatte geraten lassen: Sich aus den von „Gott Habermas“ verordneten „herrschaftsfreien Diskursen herauswindend“, sah er sich mit dem Verdikt konfrontiert, ein „Rechter“, „Lummer-Anhänger“ oder „Gerhard-Löwenthal-Nazi-Sendungen-Gucker“ zu sein. Nicht zufällig antwortete er einst im Fragebogen dieser Zeitung, daß er „wenn schon, dann die deutsche Knechtschaffenheit“ verändern wolle.

Ernüchternd waren auch die Begegnungen im literarischen Betrieb der Bundesrepublik. Den Verband der Schriftsteller (VS) West-Berlin verließ er bereits 1989 während einer Tagung, als ein IG-Medien-Boß Erich Honecker verteidigte: „Während er weiterredete, stand ich auf, drängte mich durch die Reihen nach draußen, trank im Foyer (...) ein Pils auf ex, warf meinen Mitgliedschein in die Ecke und lief dann langsam, ganz langsam nach Hause.“

Dieses ist inzwischen zu einem Atelier mutiert. Denn der Schriftsteller Hultenreich – zu DDR-Zeiten auch als Bibliothekar und professioneller Musiker tätig – wandelt sich seit 2008 vom Flaneur zum „Tuschör“. So sind bislang 2.600 Tuschezeichnungen und -malereien entstanden: Unterschiedlichste Motive zwar, doch sämtlichst in Postkartengröße. Sie zeigen etwa Porträts, imaginäre Landschaften oder christliche Themen, nicht selten unterlegt durch tiefsinnige wie lakonische Verse, die den Dichter verraten.

Für dessen Kollegen Ulrich Schacht bewegt sich das Werk des aufgehenden „Maler-Sterns“ Hultenreich „zwischen Schmerz und Erlösung“. Seine „skurrilen Nahsichten auf Mensch, Tier und Geschichte“ offenbarten eine Zeichenkunst „geöffnet ins Transzendente, auf jene Chiffre zu, die wir ‘Gott’ nennen“. Nicht zuletzt sind sie auch Zeugen eines – hier wieder auf Schiller verweisenden – unbedingten Freiheitswillens, so beispielsweise in den Porträts von Franz von Sickingen und Ulrich von Hutten.

Die Hultenreich-Ausstellung ist bis zum 1. Juni in der Berliner Galerie Anke Zeisler, Gethsemanestraße 9, mittwochs 15 bis 19 Uhr (und nach Vereinbarung) zu sehen. Telefon: 030 / 44 79 35 11 www.galerie-zeisler.de

Hauptwerk: Im Rahmen seiner Ausstellung „Vertuschtes“ liest Jürgen K. Hultenreich aus seinem autobiographischen Roman „Die Schillergruft“ am 25. Mai in der Galerie Anke Zeisler (19 Uhr) in Berlin-Prenzlauer Berg.

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