© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/11 13. Mai 2011

Auf dem Weg in die Bankendiktatur
Systemrelevant
Wolfgang Philipp

In der Geschichte gibt es nicht selten Veränderungen, die das geschriebene Recht stillschweigend durch neue Wirklichkeiten ersetzen, ohne daß eine offene Revolution stattfindet. Solche Vorgänge spielen sich zur Zeit in großem Stil auf der Ebene Europas und seiner Nationalstaaten ab. Träger dieser Entwicklung sind – ein politisches Novum –  die Banken. Diese sind zu Geschäften übergegangen, die sich in apokalyptischen Dimensionen als gemeinwohlschädlich erwiesen haben.

Eine erste Fehlentwicklung lag darin, daß in Deutschland die Banken vor etwa 40 Jahren dazu übergingen, den Erwerb und die Bebauung von Immobilien zu finanzieren, ohne einen Eigenkapitalanteil der Darlehensnehmer zu verlangen. Dabei wurde oft leichtfertig vorgegangen. Für die Darlehensnehmer und die Banken endeten viele dieser Projekte in Katastrophen, vor allem wenn sie mit fragwürdigen Steuergestaltungen verbunden wurden.

Ein weit folgenreicherer Schritt war das Bestreben der Banken, ihren Kapitalanlagen suchenden Kunden statt Aktien und Anleihen „Zertifikate“ beziehungsweise „Derivate“ anzubieten. Die Möglichkeit dazu hatte ihnen im Jahre 2002 der Staat durch Streichung des bestimmten „Wetten“ die Rechtswirksamkeit absprechenden Paragraphen 764 BGB eröffnet. Die genannten Bankprodukte sind solche für den privaten Anleger oft unverständliche und mit erheblichem Risiko behaftete Wetten. Während in Aktien oder in Anleihen angelegte Ersparnisse realen Zwecken der Wirtschaft oder des Staates dienen, bleiben in Zertifikaten angelegte Mittel außerhalb der Realwirtschaft: Das Geld verliert seinen Sinn, Wertmesser für Waren und Dienstleistungen zu sein.

Es findet seine Daseinsberechtigung in sich selbst und wird als „Spielgeld“ hin- und hergeschoben, die Geldmenge wird aufgebläht. Ende 2010 hatte der Zertifikatemarkt in Deutschland ein Volumen von 106 Milliarden Euro. Dabei verkaufen die Banken meist ihre eigenen Produkte und „beraten“ ihre Kunden dahin, ausgerechnet diese zu kaufen.

Aktien empfehlen sie fast nicht mehr. Dadurch haben sie eine wichtige volkswirtschaftliche Funktion aufgegeben. Bei den Gerichten häufen sich Klagen von Bankkunden, die ihr Geld verloren haben. Diese Fehlleitung des Sparkapitals hat zum Nachteil der Volkswirtschaft den Kapitalmarkt austrocknen lassen. Seit dem Höchststand im Jahre 2001 ist die Zahl der Aktionäre von fast 13 Millionen auf rund 8,6 Millionen Anleger, die unmittelbar oder über Fonds Aktien halten, zurückgegangen.

Nachdem sie selbst den Kapitalmarkt ausgehöhlt hatten, dachten die Banken darüber nach, wie er wieder „gerettet“ werden könnte. Dabei verfielen sie auf die jedem Banklehrling um die Ohren zu hauende Idee, vom Kapitalmarkt benötigte langfristige Mittel kurzfristig zu refinanzieren und dabei auch noch an der Zinsdifferenz zu verdienen.

Unter Einschaltung von „Zweckgesellschaften“ und mit dem Segen der Politik gaben sie kurzfristig laufende „Asset-Backed Securities“ (forderungsbesicherte Wertpapiere) aus und kauften mit dem so beschafften Geld lang laufende Titel, insbesondere Hypothekendarlehen. Die waren oft zu großen „Klumpen“ gebündelt und vielfach wertlos. Eine gebotene Sicherheitenprüfung fand nicht statt. Diese Kombination zweier gravierender Kunstfehler führte zur Bankenkrise 2007.

Um zu verhüten, daß die Anleger ihre Ersparnisse durch Bankzusammenbrüche verlieren, griff der Staat in das Marktgeschehen ein, bescheinigte diesen Banken „Systemrelevanz“ und setzte riesige Steuermittel ein, um einige von ihnen zu retten (IKB, Commerzbank, Hypo Real Estate, Aareal Bank). Seither haben die Banken einen „Jagdschein“, verbunden mit enormem Machtzuwachs gegenüber dem Staat: Diesen können sie erpressen, gebärden sich privatkapitalistisch, streichen einschließlich ihrer Vorstände hohe Gewinne ein, wissen aber, daß sie im Fall des Mißerfolges vom Staat aufgefangen werden: eine untragbare Symbiose von Kapitalismus und Sozialismus.

Die nächste Neuerung, die den Gesetzgeber sogar zum Erlaß eines eigenen „Finanzmarktstabilisierungsgesetzes“ veranlaßte, war die Idee, durch Grundschulden gesicherte Forderungen zu verkaufen. Dies geschah in vielfacher Milliardenhöhe und führte dazu, daß auf der Schuldnerseite Tausende von mittelständischen beziehungsweise privaten Existenzen vernichtet wurden. Die vertrauensvollen Beziehungen mit ihren Kunden wurden von den Banken einseitig zerrissen, an die Stelle des Kreditgebers traten oft ausländische „Räuber“, denen es nur darauf ankam, die belasteten Grundstücke zu versteigern und schnelles Geld zu machen. Wichtige Aufbauarbeit auch in den neuen Bundesländern wurde zerstört.

Grundlage für die nächste, ganz Eu­ropa endgültig in die Krise stürzende Kreditpolitik der Banken war die Einführung des Euro. Sie bot einer Reihe von Ländern den Anreiz, sich hoch zu verschulden. Die kreditgebenden Banken erkannten, daß die Bonität dieser Länder durch solch expansive Verschuldungspolitik sank und verlangten zum „Risikoausgleich“ höhere Zinsen. An diesen verdienten sie prächtig, die Vorstandsboni stiegen.

Das ging so lange gut, bis Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung einiger Staaten ins Haus stand, zunächst im überschuldeten Griechenland. Daraus wurde merkwürdigerweise abgeleitet, der Euro sei in Gefahr und müsse unter allen Umständen verteidigt werden. An Griechenland fließen aus europäischen Ländern rund 110 Milliarden Euro, davon rund 22,4 Milliarden Euro aufgrund eines eigenen „Ermächtigungsgesetzes“ aus deutschen Mitteln.

Einen Effekt zur Rettung Griechenlands konnte das nicht haben: In Wirklichkeit ging das Geld auf dem Umweg über dessen Staatshaushalt an Banken, die Griechenland Kredite gegeben hatten und jetzt um deren Rückführung fürchteten. Die Situation Griechenlands wurde keinen Deut besser: An die Stelle der Banken traten nun als Gläubiger Eurostaaten und übernahmen diejenigen Risiken, von denen sie mit Steuergeld die Gläubigerbanken Griechenlands befreit hatten.

Daß man ein überschuldetes Unternehmen durch Liquiditätszufuhr nicht retten kann, weiß jeder Fachmann, das Ganze ist nichts anderes als eine gigantische Insolvenzverschleppung. Dementsprechend fallen die Kurse griechischer Staatsanleihen weiter. Die „Rettungsaktion“ diente niemandem außer den Banken. Diese mußten nicht einmal auf Zinsen verzichten, geschweige denn durch Forderungsverzichte einen Beitrag zur Entschuldung des Landes leisten. Vergleichbare „Rettungsaktionen“ spielen sich gegenwärtig in Irland und Portugal ab.

Am 24. März 2011 beschloß der Europäische Rat die Gründung eines dauerhaften „Europäischen Stabilitätsmechanismus“, der bis zu 500 Milliarden Euro Kredite gewähren soll, für deren Sicherung Bargeld und Bürgschaften in Höhe von 700 Milliarden Euro benötigt werden (JF 15/11). Deutschland soll 22 Milliarden Euro bar einzahlen und Bürgschaften bis zu 168 Milliarden Euro stellen. Aber: „Wer bürgt ohne Pfand, dem sitzt ein Wurm im Verstand.“ So lernten es einst Jurastudenten in Freiburg, aus Bürgschaften werden oft sehr schnell existenzzerstörende Schulden.

Diese von den Banken durchgesetzte Entwicklung bedeutet das stille Ende des demokratischen Staates in Deutschland, sie kommt einem Staatsstreich gleich. Der grüne Bundestagsabgeordnete Jürgen Trittin stellt – sogar mit Befriedigung –  fest, „eine nationale Finanzpolitik gebe es faktisch nicht mehr“ (FAZ vom 19. Februar 2011). Das Parlament verliert seine wichtigste Aufgabe, den Bundeshaushalt zu verantworten. Jederzeit können Haushalte jetzt dadurch überrannt werden, daß Institutionen außerhalb Deutschlands, die hier keiner demokratischen Kontrolle unterliegen, Zahlungsverpflichtungen Deutschlands auslösen.

Die vom Staat gewährten Bürgschaften sind durch Haushaltsmittel nicht unterlegt. Auch Bürgschaften sind Kredite. Die öffentliche Verschuldung in Deutschland stieg schon 2010 wegen dieses Bankenverhaltens mit 304 Milliarden Euro um 18 Prozent. Wenn ein Bankvorstand insolvenzreifen Schuldnern Kredite gibt, macht er sich wegen Untreue strafbar. Im Krisenfall kann es jetzt vorkommen, daß in einem einzigen Haushaltsjahr zweistellige Milliardenbeträge plötzlich an aktuellen Zahlungsverpflichtungen auf Deutschland zukommen, wenn Gläubiger die Bürgschaften ziehen.

Die Folgen sind zu sehen. Deutschland hat schon jetzt keine ausreichenden Möglichkeiten mehr, seine eigenen Angelegenheiten in Ordnung zu bringen. Die Kommunen sind überschuldet, Straßen können nicht mehr repariert werden, Kinder werden nicht mehr anständig ausgebildet, Schulen und andere öffentliche Gebäude verfallen, bei Sozialleistungen wird über fünf Euro gestritten, während auf der anderen Seite bis zu weit über 250 Milliarden Euro an fremde Völker fließen. Die immer kleiner werdende junge Generation soll die riesigen Beträge zurückbezahlen, welche die Politiker in ihrem Eurowahn ausgeben und so über Steuern und Abgaben die nächste Generation bis hin zur Existenzvernichtung ausplündern.

Rechtlich ist das Ganze höchst fragwürdig. Die französische Finanzministerin hat – ohne zurücktreten zu müssen – zugegeben, der Lissabon-Vertrag sei gebrochen worden. Über die verfassungsrechtliche Lage in Deutschland wird hoffentlich demnächst das Bundesverfassungsgericht entscheiden.

In Deutschland sind die Kreditvergaben an Griechenland und Irland nicht einmal durch die hierzu ergangenen „Ermächtigungsgesetze“ gedeckt. Danach sollte fremden Staaten geholfen werden, nicht aber fremden Banken: Rechtsbruch auf der ganzen Linie. Die europäische Politik handelt unter massivem Druck der „systemrelevanten Banken“ und auf breiter Front in deren Interessen. Eine Bankendiktatur hat die politischen Systeme schon jetzt schwer beschädigt und droht sie zu zerstören.

Was ist zu tun? Die den Banken in den letzten Jahren auch durch Gesetzesänderungen eingeräumten Freiräume müssen wieder beschränkt werden. Als erstes wäre der Verkauf von Derivaten und Zertifikaten an private Anleger wieder seiner Rechtsgültigkeit zu entkleiden. Herausgelegte Kredite müßten an höheres Eigenkapital gebunden werden, wie es soeben in England von einer „Independent Banking Commission“ mit einer Quote von mindestens zehn Prozent vorgeschlagen wurde.

An die Kreditwürdigkeit von Schuldnern sind strengere Maßstäbe anzulegen, das gilt auch für fremde Staaten. Es ist sicherzustellen, daß die Banken nach den Regeln der Marktwirtschaft die Risiken ihrer Kreditgeschäfte wieder selbst tragen, das heißt auch Ausfälle, wie sie Insolvenzen nun einmal nach sich ziehen.

Zudem muß die Möglichkeit eröffnet werden, daß einzelne Länder die Eurozone wieder verlassen und ihre ursprüngliche Währung einführen dürfen, um durch Abwertung ihre Probleme zu lösen. Wenn die Demokratie in Europa erhalten bleiben soll, muß der Vorrang der Politik auch gegenüber den Banken wieder hergestellt werden. Eine Bankendiktatur ist das Letzte, was Deutschland und Europa gebrauchen können.

 

Dr. Wolfgang Philipp, Jahrgang 1933, war unter anderem Syndikus der Dresdner Bank und ist seit 1976 Rechtsanwalt in Mannheim. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Politikversagen in Deutschland („Die Abschaffer“, JF 45/10.)

Foto: „Mainhattan“: Die Wolkenkratzer in der deutschen Finanzmetropole Frankfurt am Main sind ein betoniertes Symbol für die Machtan-sprüche der Banken

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