© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/11 13. Mai 2011

Der Flaneur
In der Soutane durch die Stadt
Georg Alois Oblinger

Der Anblick eines Priesters, eines Ordensmannes oder einer Ordensfrau gehörte noch vor wenigen Jahrzehnten zum normalen Alltag in einer deutschen Großstadt. Seitdem ist nicht nur die Zahl der Priester und Ordensleute zurückgegangen, vielmehr ist für die Unsichtbarkeit kirchlicher Vertreter in unseren Innenstädten eine Mentalität des Versteckens verantwortlich, die vor allem männliche Ordensleute und Priester dazu verleitet hat, unauffällige bürgerliche Kleidung zu tragen.

Wie ist es aber, wenn ein Priester in Soutane oder schwarzem Anzug mit römischem Kragen heute durch eine deutsche Innenstadt geht? Regelmäßig mache ich die Erfahrung, als kenntlich gekleideter römisch-katholischer Priester weit mehr Aufsehen zu erregen als ein grünhaariger Punker. Wenn Blicke sprechen könnten, würden sicherlich viele Äußerungen an mein Ohr dringen.

Aber auch so dringen häufig Bemerkungen an mein Ohr. Da ist die ältere Dame, die mich besonders freundlich grüßt und mir ein Lächeln schenkt, welches ich gerne erwidere. Da ist der resolute Herr mittleren Alters, der mich auf der Straße anspricht und sich dafür bedankt, daß es heute noch Priester gibt, die ihre Berufung nicht schamhaft verstecken. Da ist aber ebenso die Gruppe Jugendlicher, die an einem Brunnen lümmelt und lautstark „Amen“ und „Satan“ ruft. Der Priester steht immer in der Nachfolge Christi und macht daher auch dieselben Erfahrungen wie dieser – vom „Hosianna“ bis zum „Kreuzigt ihn“.

Als ich das Geschäft verlasse, in dem ich eben noch etwas eingekauft habe, spricht mich am Ausgang der junge Verkäufer an. Ob ich denn Pfarrer sei? Katholisch oder evangelisch? Er sei griechisch-orthodox. Stolz zeigt er mir das Kreuz an seinem Hals: „Jesus, der bedeutet mir sehr viel.“

Auf jeden Fall ist die priesterliche Kleidung sehr kommunikativ. Wer sie nicht trägt, versäumt etwas.

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