© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/11 20. Mai 2011

Ein kleines Rad im Getriebe
Wehrdienst: Glück im Unglück – 543 Tage im Dienst der Nationalen Volksarmee der DDR / JF-Serie, Teil 5
Jörg Fischer

Im Sommer ’61, am 13. August, da schlossen wir die Grenzen, und keiner hat’s gewußt. Klappe zu, Affe tot, endlich lacht das Morgenrot“, reimte der Brecht-Schüler Heinz Kahlau vor fünf Jahrzehnten. Das bedeutete: 17 Millionen Deutsche waren eingemauert. Am 24. Januar 1962 folgte der zweite Schicksalsschlag: Das Gesetz über die allgemeine Wehrpflicht trat in Kraft.

Insgesamt 2,5 Millionen junge Deutsche mußten schwören, „der Deutschen Demokratischen Republik, meinem Vaterland, allzeit treu zu dienen und sie auf Befehl der Arbeiter-und-Bauern-Regierung gegen jeden Feind zu schützen“ sowie „an der Seite der Sowjetarmee und der Armeen der mit uns verbündeten sozialistischen Länder als Soldat der Nationalen Volksarmee jederzeit bereit zu sein, den Sozialismus gegen alle Feinde zu verteidigen und mein Leben zur Erringung des Sieges einzusetzen“.

Daß der Marionettenstaat kein Vaterland, die Regierung eine SED-Diktatur und der Sozialismus ein von der Besatzungsmacht aufgezwungenes Unterdrückungssystem war, für das kein Deutscher sterben wollte, interessierte nicht – Verweigerung bedeutete Zuchthaus. Die Frage Wehr- oder Zivildienst stellte sich nicht. Auch die mit vielerlei Schikanen versehene Alternative „Bausoldat“ bedeutete 18 Monate Militärdienst – nur ohne Kalaschnikow. Eine Flucht in den Westen war Anfang der achtziger Jahre nur etwas für Lebensmüde. Selbst ein Ausreiseantrag bewahrte nicht vor der Einberufung, brachte aber die ganze Familie in existentielle Schwierigkeiten.

Und so wurde ich „ein kleines Rad im Getriebe der Diktatur“, wie kürzlich auch der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn, im Spiegel einräumte. So schlossen sich 1983 wie 1963 für meinen Vater auch für mich die Kasernentore – Klappe zu, Affe tot. 543 Tage mußte ich als Soldat aus Thüringen in einer Kaserne in Brandenburg dienen. Was einen dort erwartete, hat keinen NVA-Rekruten überrascht. Seit Ende der siebziger Jahre war der Wehrkundeunterricht an den DDR-Schulen obligatorisch. Mit 16 folgte die vormilitärische Ausbildung im Rahmen der Gesellschaft für Sport und Technik (GST) – Marschieren, Sturmbahn, Schießen, Handgranatenwurf. Das verschärfte Wehrdienstgesetz von 1982 lieferte die juristische Grundlage nach.

Doch ich hatte viel Glück im Unglück. Ich kam nicht zu den Grenztruppen, die auf DDR-Flüchtlinge schießen sollten, sondern ich wurde einer Instandsetzungskompanie zugeteilt. Urinsteinentfernen mit der Rasierklinge oder als „Sprutz“ (Soldat des ersten Diensthalbjahres) den „EKs“ (Entlassungskandidaten) zu Diensten zu sein, waren noch die leichteren Übungen, für manche waren die Schikanen der „Kameraden“ allerdings schlimmer als die militärische Ausbildung.

Die DDR-Mangelwirtschaft in Verbindung mit unbedingtem Gehorsam brachte mich schließlich ins Krankenbett: Da ich zum Sport zu enge Schuhe tragen mußte, entzündeten sich durch die Schlacke der Aschenbahn meine aufgescheuerten Füße so stark, daß ich bange Wochen im „Med.-Punkt“ verbrachte. Doch die solide Ausbildung der NVA-Ärzte rettete meine Beine. Später wurde ich dann als Hilfsbibliothekar und Betreuer der Schulungsräume abkommandiert. Über das schlechte Essen trösteten die heißersehnten Pakete der Eltern hinweg.

Neben Abkommandierungen zur Feuerwache oder auf den Schießplatz gab es schon 1984 auch solche, die den ökonomischen Niedergang der DDR offenbarten: Ganze Mot.-Schützen-Kompanien wurden monatelang zum Hilfseinsatz in die Wirtschaft befohlen, etwa in die Chemiefabrik Premnitz. Gleichzeitig wurde aber (um im Kalten Krieg „ständige Gefechtsbereitschaft“ vorzugaukeln) fast ein ganzes Bataillon aus Reservisten gebildet, die für jeweils drei Monate erneut einrücken mußten. Ein sagenumwobener Einsatz war der beim Aufbau des Häuserkampfobjekts Lehnin: Hier sollte die Eroberung West-Berlins wirklichkeitsnah trainiert werden. Ob im „E-Fall“ wirklich Deutsche auf Deutsche geschossen hätten? Der Mauerfall 1989 hat die Antwort obsolet gemacht.

Versetzung von NVA-Wehrpflichtigen in die Reserve (1983): Hilfseinsatz in der maroden DDR-Wirtschaft

Name: Jörg Fischer

Dienstzeit: 11/83-4/85

Dienstgrad: Gefreiter

Einheit: Mot-Schützenreg. 3

Garnison: Brandenburg/Havel

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