© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/11 20. Mai 2011

Nur ein Puzzleteil
Vergangenheitsbewältigung: Wer den Fall John Demjanjuk verstehen will, darf sich nicht alleine mit dem Münchner Prozeß gegen den Ukrainer beschäftigen
Thorsten Hinz

Die Umstände, Details und Fotos, die vom Prozeß gegen den 91jährigen Iwan Demjanjuk publik geworden sind, erscheinen so unwürdig, daß man sich weigert zu glauben, der deutsche Rechtsstaat hätte das Verfahren ganz aus eigenem Antrieb in Gang gesetzt. Auf der Suche nach möglichen externen Gründen wird man fündig in Büchern wie Peter Novicks „Nach dem Holocaust“ oder in Harold Tittmanns „Die Verteufelung“. Tittmann, ein amerikanischer Rechtsanwalt, analysierte die „US-Rufmord-Kampagne“, die 1986 gegen den ehemaligen österreichischen Bundespräsidenten Kurt Waldheim wegen vermeintlicher Kriegsverbrechen losbrach. Bei der Gelegenheit erörterte er ausführlich den Fall Demjanjuk.

Um die Zusammenhänge zu verstehen, muß man zurückgehen in die späten sechziger und siebziger Jahre, als die großen amerikanischen Organisationen begannen, den Holocaust in den Mittelpunkt ihres Selbstverständnisses zu rücken. Mehrere Gründe waren dafür ausschlaggebend. Zum einen ließ sich damit wirksam Solidarität mit Israel organisieren. Jüdischen Linksintellektuellen bot sich die Gelegenheit, das inzwischen abgenutzte Instrument der moralischen Empörung zu schärfen, das ihnen in der Bürgerrechtsbewegung so nützliche Dienste geleistet hatte. Rechte Kräfte wiederum konnten am Beispiel des Judenmords aufzeigen, wie wenig auf liberale Grundwerte Verlaß war und so ihren Konservatismus begründen. Vor allem aber ging es darum, die jüdische Gemeinde zusammenzuschweißen und die jüdische Identität zu erneuern, die im Begriff war, sich im amerikanischen Schmelztiegel aufzulösen.

Die Fama kam auf, daß nach dem Zweiten Weltkrieg NS-Verbrecher zuhauf in den Vereinigten Staaten Unterschlupf gefunden hätten. Um sie aufzuspüren, richtete die amerikanische Regierung 1979 ein „Office of Special Investigations“ (OSI) ein, ein Büro für Sonderermittlungen, das dem Justizministerium unterstand und dem zeitweise bis zu 50 Mitarbeiter – Ermittlungsbeamte, Juristen, Historiker – angehörten. Doch zeigte sich schnell, daß die tatsächliche Zahl untergetauchter NS-Täter gering war. Unter Rechtfertigungsdruck stehend, griff das OSI zu fragwürdigen Methoden. Zum Skandal entwickelte sich der Fall des polnischstämmigen Frank Walus, der beschuldigt wurde, als Gestapo- und SS-Kollaborateur sadistische Verbrechen an Juden begangen zu haben. Israelische Gerichtsbehörden ließen Informationen an die Presse durchsickern, daß aufgrund des Belastungsmaterials eine Verurteilung Walus’ sicher wäre.

Eine Reihe von Zeugen, einige davon extra aus Israel eingeflogen, bestätigten Walus Identität mit dem Schinder aus dem besetzten Polen. Ein Bundesgericht erkannte ihm daraufhin die Staatsbürgerschaft ab. Walus konnte schließlich aber nachweisen, daß er zur fraglichen Zeit als Zwangsarbeiter in Deutschland gefangengehalten worden war. Es kam zu einem Kuhhandel: Um eine Klage vor dem Obersten Gerichtshof zu vermeiden, zog das OSI den Ausweisungsbeschluß zurück, allerdings ohne seinen Irrtum zuzugeben. Es räumte lediglich das Fehlen zwingender Beweise ein, womit das Odium der Täterschaft an Walus haftenblieb.

Weit schlimmer erging es Iwan Demjanjuk, der erstmals 1976 von einer in New York erscheinenden ukrainischen Zeitung, die enge Verbindungen in die Sowjetunion unterhielt, auf eine Liste mit angeblichen Kriegsverbrechern gesetzt wurde. Dabei ging es den Sowjets mutmaßlich darum, die ukrainische Nationalbewegung im Ausland als faschistisch zu diskreditieren. Zeugenaussagen wurden beigebracht, welche die Identität Demjanjuks mit einem unter dem Namen „Iwan der Schreckliche“ berüchtigten Aufseher  im Vernichtungslager Treblinka bestätigten. Daraufhin wurde ihm 1981 durch Gerichtsbeschluß die amerikanische Staatsbürgerschaft entzogen. Ein weiteres Urteil genehmigte seine Auslieferung nach Israel, die 1986 stattfand. 1988 wurde er dort zum Tode verurteilt.

Schon in diesem Prozeß ging es nicht hauptsächlich um die individuelle Schuld des Angeklagten. Wie der israelische Historiker und Journalist Tom Segev schreibt, hatten die früheren NS-Prozesse das Gefühl hinterlassen, daß der liberale Rechtsstaat keine effektive Auseinandersetzung mit NS-Verbrechen zulasse und der Gerechtigkeit entgegenstehe. Demjanjuk diente nun als Demonstrationsobjekt, an dem – in der Diktion der Richter – in „heiliger Ehrfurcht“ die „finsteren Tage der grauenhaften Schoa zu untersuchen“ waren. Das Verfahren wurde in einen Kinosaal verlegt und im Fernsehen übertragen.

Was die amerikanischen und israelischen Richter damals nicht wußten: Dem OSI lagen Dokumente aus Polen und der Sowjetunion vor, die auf die Unschuld des Angeklagten verwiesen. Der Zusammenbruch der Sowjetunion ermöglichte es dem israelischen Verteidiger Demjanjuks, sie nun ebenfalls einzusehen und seinen Mandanten vor dem Galgen zu bewahren. Es spricht für die Rechtsstaatlichkeit Israels, daß der Oberste Gerichtshof ihn 1993 auf freien Fuß setzte.

Das amerikanische Gericht, das der Auslieferung einst zugestimmt hatte, hob das Urteil nun auf und bezeichnete das Verhalten des OSI als „Betrug des Gerichts“. Außerdem kritisierte es den Druck, mit dem der Kongreß und jüdische Organisationen beim OSI eine Einstellung des „Gewinnens um jeden Preis“ hervorgerufen hatte. Direktor Allan Ryan erklärte 1991 das Fehlverhalten seiner Behörde so: „Wenn wir den Fall verloren hätten, hätten wir womöglich kein langes Leben gehabt.“ Tittmanns Kommentar dazu: „Die OSI war bereit, Demjanjuks Leben zu verkürzen, um ihr eigenes zu verlängern.“

Über die unmittelbare Blamage der Behörde und der Politiker und Medien hinaus, die sich gegen Demjanjuk engagiert hatten, war die amerikanische Öffentlichkeit nun generell über die Sinnhaftigkeit der fortgesetzten Suche nach NS-Tätern desillusioniert. Und noch viel mehr stand auf dem Spiel. In einer Fußnote zitiert Peter Novick, was ein leitender Funktionär des American Jewish Committee gegenüber dem Vertreter des OSI bereits zum Fall von Frank Walus geäußert hatte: „Eine unserer Hauptsorgen hinsichtlich der Entwicklung in diesem Fall ist es, daß die Widerlegung von zwölf Zeugen einen negativen Effekt auf die Glaubwürdigkeit solcher Zeugen in ähnlichen Fällen haben wird.“ Der israelische Polizeioffizier, der die Belastungszeugen in seinem Land aufgespürt hatte, sprach nach der Einstellung des Walus-Verfahrens von deren „Beleidigung“. Was wohl bedeuten soll, daß deren Aussagen einer höheren, von irdischer, nachweisbarer Faktizität gar nicht erreichbaren Ordnung angehörten.

Wegen der viel größeren Dramatik und Publizität gegenüber dem Walus-Skandal war Demjanjuks Freispruch ein noch schwererer Schlag für diese Art der Wahrheitsauffassung und Geschichtspolitik. Die Holocaust-Expertin Deborah Lipstadt rief dazu auf, die Verfolgung von Verdächtigen fortzusetzen und „ihnen den Prozeß zu machen, auch wenn sie auf einer Bahre in den Gerichtssaal gerollt werden müßten“.

Genau das sollte sich 17 Jahre später in einem Münchner Gerichtssaal erfüllen. Diesmal ging es um das Lager Sobibor statt Treblinka. Der Staatsanwalt räumte zwar ein, daß Demjanjuk „konkrete Einzelhandlungen“ nicht nachgewiesen werden könnten und er sich auch nicht freiwillig zu dem Dienst gemeldet habe, doch habe er sich die „rasseideologischen“ Ziele der Nationalsozialistischen zu eigen gemacht habe. Das ergäbe sich daraus, „daß keine Bemühungen des Angeklagten erkennbar sind, sich der Tätigkeit zu entziehen.“ Zumindest für juristische Laien klingt das verdächtig nach einer Umkehr der Unschuldsvermutung.

Ob solche Moralisten des Unbedingten in vergleichbarer Situation wohl selbst den Praxistest bestünden?

Leicht könnte der Eindruck entstehen, daß der Prozeß auf einen außerjuristischen Nebenzweck abzielte: Der „negative Effekt“, den bestimmte Kreise wegen Demjanjuks Freispruch 1993 befürchteten, sollte verhindert und dazu an dem Greis eine geschichtspolitische Generalprävention exekutiert werden.

Foto: Demjanjuk nach der Urteilsverkündung in der vergangenen Woche: Vom Obersten Gerichtshof Israels bereits 1993 auf freien Fuß gesetzt

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