© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/11 27. Mai 2011

„Mal mit der Faust auf den Tisch hauen“
Ausgerechnet Altbundespräsident Roman Herzog ist zu Deutschlands „oberstem“ EU-Kritiker avanciert. Schritt für Schritt manövriere uns die Brüsseler Bürokratie in einen Superstaat
Moritz Schwarz

Herr Bundespräsident, Sie warnen vor einem Scheitern der EU, warum?

Herzog: Moment, ich habe eigentlich nie vor ihrem Scheitern gewarnt.

So fassen „Focus“, „Welt“ oder „Handelsblatt“ etwa Ihren letzten „Brandbrief“ („Focus“) zur EU wörtlich zusammen.

Herzog: Das ist eine Übertreibung. Was ich kritisiere ist, daß die EU im Augenblick in keinem guten Zustand ist.

Also, wie ist der Zustand konkret?

Herzog: Aus der EU ist eine Bürokratie geworden, und Bürokratie macht einen Staat – beziehungsweise hier eine staatsähnliche Konstruktion – nicht stark, sondern immer schwach.

Sie gelten mit Ihren drei großen Kritiken „Die Europäische Union gefährdet die parlamentarische Demokratie“, erschienen 2007 in der „Welt am Sonntag“, und „Stoppt den Europäischen Gerichtshof“ sowie „Die EU schadet der Europa-Idee“ , erschienen 2008 und 2010 in der „FAZ“ inzwischen als der prominenteste deutsche EU-Kritiker überhaupt.

Herzog: Ich weiß nicht, mag sein, aber um Mißverständnisse zu vermeiden: Ich bin nach wie vor felsenfest davon überzeugt, daß wir eine starke Europäische Union brauchen. Ich bin also kein Kritiker der europäischen Einigung, im Gegenteil, ich bin nur ein Kritiker des gegenwärtigen Kurses der EU.

Dennoch sorgen Sie mit Ihrer Kritik immer wieder für Unmut, etwa bei Bundestagspräsident Norbert Lammert. Einer Ihrer Kritiker wirft Ihnen etwa vor, Sie verhinderten so ein „buntes, vielfältiges Europa unter einer starken Zentralgewalt“.

Herzog: Eine solche Kritik erinnert mich an einen Witz: Zwei Staatsbürger unterhalten sich über die richtige Staatsform, meint der eine: „Ich bin für Anarchie.“ Erschreckt ruft der andere: „Um Gottes Willen!“ Worauf der erste beruhigt: „Kein Sorge, natürlich mit einem starken Anarchen an der Spitze.“ Was ich sagen will: Wer so was sagt, dem ist offenbar nicht klar, daß das zwei zuwiderlaufende Gedanken sind. Ich kann nur wiederholen: Eine bürokratische Union, in der alles bis hin zum letzten I-Tüpfelchen geregelt ist, ist schwach, weil die wirklichen Aufgaben liegenbleiben.

Zum Beispiel?

Herzog: Nehmen Sie die Außenpolitik, da ist ja eine Zusammenarbeit der Europäer dringend wünschenswert, aber in der politischen Praxis geht sofort wieder alles in Richtung auswärtiger diplomatischer Dienst usw. Statt daß es um Gemeinsamkeiten in den wesentlichen Grundsatzfragen geht, damit man an dem Tisch, an dem sich Amerikaner und Chinesen treffen, als Dritter auf Augenhöhe mitreden kann.

Im Zentrum Ihrer Kritik steht das Prinzip der „Subsidiarität“, also die Idee, daß Eigenverantwortung immer an erster Stelle steht: Demnach darf der Staat beziehungsweise die nächsthöhere staatliche Ebene, etwa Berlin oder Brüssel, eine Kompetenz erst dann an sich ziehen, wenn sie von der unteren Ebene – etwa Kommune oder Land – nicht mehr eigenverantwortlich erledigt werden kann. Das klingt doch gut, was haben Sie gegen dieses Prinzip?

Herzog: Gar nichts, im Gegenteil, so sollte es sein. Das Problem ist aber, daß es nur noch auf dem Papier so ist, die Praxis aber läuft dem entgegen. Die Wahrheit ist doch, daß man in Brüssel überhaupt kein Gefühl für Subsidiarität mehr hat. Das Bild, das man sich dort von sich selbst und seinen Aufgaben macht, ist vielmehr das von einem Superstaat, eines Staates, der über die bestehenden Staaten gestülpt ist. Das ist aber nicht das Europa, das wir ursprünglich geplant haben.

Was hatten wir geplant?

Herzog: Europa war gedacht als eine Gemeinschaft, die die Mitgliedstaaten soweit wie möglich schont. Statt dessen aber hat die Idee der Rechtsvereinheitlichung mittlerweile einen wahnsinnigen Umfang angenommen, man denke nur an die Zahl der bereits entstandenen Vorschriften. Das ist so eine Art Ersatzbefriedigung der Bürokratie.

Sie haben in der „FAZ“ als Beispiel drei Themenfelder – Bildung, Sozialpolitik und Antidiskriminierung – benannt, an denen Sie beispielhaft zeigen, daß diese zu Unrecht von der EU an sich gezogen worden sind, weil sie eigentlich auf nationaler Ebene besser geregelt werden könnten.

Herzog: Ja, tatsächlich gibt es doch ganz unterschiedliche Gesellschaftsstrukturen in der EU. Bei uns in Deutschland etwa spielt die Familie keine große Rolle mehr, also muß dort das staatliche Sozialsystem viel ausgeprägter sein als dort, wo das Altersrisiko vom Familienverband aufgefangen wird. Es hat also überhaupt keinen Sinn, hier eine europäische sozialstaatliche Homogenität herbeizuführen. Vielleicht in zwei, drei oder mehr Generationen, aber jetzt schon so zu tun, als ob das notwendig wäre, das sehe ich nicht ein. Bei der Bildung ist es ähnlich: Es ist für Europa nicht entscheidend, ob Deutschland ein zwei- oder dreigliedriges Schulsystem hat oder ob es im beruflichen Bereich ein duales System gibt oder nicht. Das sind Dinge, die man jedes Land so regeln lassen sollte, wie es das will. Man kann vorgeben, was am Ende herauskommen muß, gut, das muß einigermaßen gleich sein – aber nicht mehr.

Und warum gehört die Antidiskriminierung nicht auf EU-Ebene?

Herzog: Aus den gleichen Gründen, aber bitte, ich will mich jetzt nicht an einzelnen Punkten festbeißen. Das sind nur Beispiele. Der Punkt ist, die europäischen Verträge basierten ursprünglich darauf, daß das Hauptinstrument Brüssels die Richtlinie, aber nicht die Regelung ist. Sprich, es wird festgelegt, was erreicht werden muß und auch innerhalb welcher Zeit, aber nicht, wie es erreicht werden soll, das ist Sache der einzelnen Mitgliedstaaten. So, und das nenne ich Subsidiarität! In der Praxis jedoch spielt das gar keine Rolle mehr, Richtlinien und Verordnungen beziehungsweise Gesetze können Sie „von außen“ her doch längst nicht mehr unterscheiden!

Sie schreiben: „Wenn Brüssel Geld gibt, dann können die Probleme offenbar besser auf EU-Ebene gelöst werden – folglich gibt Brüssel nur zu gerne Geld.“ Wenn das so ist, dann reden wir allerdings nicht über einen Mißstand, sondern über Mißbrauch, denn dann hat das ja offenbar Methode.

Herzog: Im Kern ist es so. Es gibt, wenn ich mich recht entsinne, inzwischen etwa über 180 Fördertöpfe in Brüssel. Ich würde unbesehen 120 bis 150 davon guten Gewissens streichen. Denn in der Tat funktioniert das so: Man hilft nicht etwa nur dort, wo sich Mitgliedstaaten selbst nicht ausreichend helfen können, sondern wo es sich anbietet, und wenn man dann Geld gibt, gibt man aber auch vor, was genau damit gemacht wird. Klar: Wer zahlt, der sagt auch an! Es handelt sich also um einen „goldenen Zügel“. Das meint, letztlich ist es keine Hilfe mehr, sondern ein Wegnehmen: Man vergoldet lediglich den Entzug der Selbstbestimmung.

Einen weiteren Trick zur Aushebelung des Subsidiaritätsprinzips nennen Sie das „Spiel über Bande“.

Herzog: Ja, zum Beispiel will ein Land, ein Ministerium, eine Partei oder ein Lobbyverband zu Hause, also national, eine bestimmte Regelung durchsetzen, kommt damit aber demokratisch nicht durch. Also regt man das gleiche Vorhaben noch einmal in Brüssel an. Die in Brüssel freuen sich, daß sie so noch etwas an sich ziehen können und machen deshalb mit. Zum Schluß wird die so entstandene neue Regelung, die zuvor im nationalen Parlament gescheitert ist, doch noch Gesetz, weil sie in irgendwelchen Euro-Paketen drinsteckt, die von der Bundesregierung abgesegnet worden sind. Und so wird etwas unter Unterlaufung der Subsidiarität Gesetz, was zuvor sogar demokratisch abgelehnt worden ist. Eigentlich müßte der Europäische Gerichtshof den Beamten der Kommission schon längst mal sagen, daß das alles schon lange zu weit geht. Aber auch beim EuGH ist ja genau das Gegenteil der Fall.

Inwiefern?

Herzog: Beim EuGH hat man doch ebenfalls keinen Sinn für Subsidiarität. Deshalb habe ich ja mal vorgeschlagen einen eigenen Kompetenzgerichtshof, der über die Aufgabenverteilung in der EU wacht, einzuführen. Komischerweise hat keiner kapiert, daß mein Vorschlag, wenn auch in höflicher Form, eigentlich der größte denkbare Ausdruck des Mißtrauens gegenüber dem EuGH war. Nun, ich glaube, ich werde es in Zukunft noch einmal in gröberer Form sagen müssen.

Richter müssen sich doch an die Gesetze halten. Wie können die EuGH-Richter also überhaupt gegen das Prinzip der Subsidiarität entscheiden, wenn auf diesem doch die europäischen Verträge basieren?

Herzog: Tja, das sind sehr schwierige Sachverhalte, um die es da geht. Der Grundsatz der Subsidiarität eröffnet eben einen Einschätzungsspielraum. Deshalb ist es ja so wichtig, daß Richter, Beamte und Politiker einen Sinn dafür haben! Aber sie haben diesen nicht und deshalb ist es eigentlich skurril, wenn wir hier die ganze Zeit von Subsidiarität sprechen, als sei das noch eine Realität. Denn tatsächlich gibt es die ja schon längst nicht mehr, längst schon geht es in der EU um Uniformität. Längst ist die Ursprungsidee durch den Glauben an den Segen der Uniformität ersetzt worden – eigentlich müßte man dafür schon das Wort „Uniformismus“ kreieren. Und das wiederum ist für mich ein Indiz dafür, daß die EU-Eliten die EU längst als entstehenden oder gar als bereits sehr weitgehend entstandenen Staat empfinden. Aber das war nie so vereinbart und ist auch durch nichts demokratisch legitimiert.

Was ist mit dem Europäischen Parlament?

Herzog: Das ist wie bei uns: Wenn in einem Bundesland etwas passiert, wird sofort nach einem neuen Gesetz gerufen. Da sich daran meist munter alle möglichen Bundestagsabgeordneten beteiligen, gehe ich davon aus, daß sie an ein Bundesgesetz denken. Also, ich bin immer dafür, das Europäische Parlament zu stärken, aber an dem Punkt versagt es genauso, wie Brüssel oder der EuGH.

Also was tun?

Herzog: Wächter der Subsidiarität müssen die nationalen Parlamente und Regierungen werden, bei uns also Regierung, Bundestag und Bundesrat.

Die sind allerdings erst 2009, inklusive der  Bundesregierung, vom Bundesverfassungsgericht in Sachen Lissabon-Urteil dabei erwischt worden, wie sie im Übermaß und grundgesetzwidrig Souveränitätsrechte an Brüssel veräußert haben.

Herzog: Na ja, man muß sagen, daß es nur Randbereiche waren, die Karlsruhe da moniert hat.

Die Aufregung war aber ungeheuer.

Herzog: Das stimmt, aber das lag an folgendem: Das Bundesverfassungsgericht hat sich lange nur dann in Entwicklungen des Europäischen Rechts eingemischt, wenn wirklich Grundrechtsfragen berührt wurden. Infolgedessen wurde es in EU-Sachen nicht mehr sehr ernst genommen, weder in Brüssel noch in Berlin. Und so mußte es eben irgendwann mal, wie dann im Fall Lissabon, mit der Faust auf den Tisch hauen.

Dennoch, im Klartext bedeutet Ihr Vorschlag doch nichts anderes, als den Komplizen zum Aufpasser über den Dieb zu machen. Kann das funktionieren?

Herzog: Die nationalen Parlamente sind für die Bürger noch die am leichtesten zu erreichenden Institutionen. Deshalb müssen wir darauf drängen, daß diese besser aufpassen.

Mit Verlaub, wer soll, nach allem was Sie ausgeführt haben, daran noch glauben? 

Herzog: Tja, ich kritisiere ja nicht nur Brüssel, ich kritisiere ebenso Berlin. Ich werfe Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat insbesondere vor, daß sie leichtfertig Kompetenzen abgeben, obwohl sie mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen müssen, daß sich nachher um Subsidiarität keiner mehr kümmert. Da müßte man eigentlich vorher sagen: „Schluß, jetzt sagen wir mal nein!“ Warum nicht ein oder zweimal im Jahr auch mal die Puppen tanzen lassen und nein sagen? Ich weiß gar nicht, warum Frau Merkel gelegentlich als „Madame No“ gescholten wird, ich kann das jedenfalls nicht nachvollziehen. Tatsächlich läuft das mitunter doch so: In den Ministerratssitzungen insistiert die Bundesregierung nachdrücklich, die EU habe in diesem oder jenem Fall gar nicht die erforderliche Gesetzgebungskompetenz, weshalb das jeweilige Vorhaben einen rechtswidrigen Eingriff in die nationalen Hoheit darstelle. In der anschließenden Abstimmung aber enthält sie sich der Stimme, um die Richtlinie dennoch nicht zu blockieren. In Brüssel heißt das: „German vote“. Ich frage mich aber, wofür hat man den Einstimmigkeitsgrundsatz, wenn man nicht mal gelegentlich, wenn die Dinge besonders manifest werden, auch mal freundlich aber bestimmt nein sagt?            

 

Prof. Dr. Roman Herzog, war von 1994 bis 1999 siebter deutscher Bundespräsident und zuvor Präsident des Bundesverfassungsgerichts.

Zunächst Kultus-, dann Innenminister von Baden-Württemberg, wechselte der ehemalige Direktor der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer 1983 als Verfassungsrichter nach Karlsruhe, bevor er dort 1987 den Vorsitz übernahm. Herzog lehrte außerdem an verschiedenen Universitäten und ist Mitautor des Grundgesetzkommentars Maunz/Dürig, der als Standardwerk gilt.

Nach dem Rückzug des ursprünglichen Kandidaten Steffen Heitmann setzte sich Roman Herzog bei der Wahl des Bundespräsidenten 1994 mit den Stimmen von Union und FDP gegen Johannes Rau durch. Allerdings verzichtete er 1999 auf eine zweite Kandidatur.

Herzog war zudem von 1981 bis 1994 Mitherausgeber des Rheinischen Merkur und ist Mitgründer und Vorsitzender des 2003 ins Leben gerufenen Konvents für Deutschland, einer Gruppe namhafter Prominenter, die für eine Modernisierung unseres politischen Systems wirbt. Geboren wurde Roman Herzog 1934 in Landshut.

 www.konvent-fuer-deutschland.de

Foto: Roman Herzog: „Längst ist die europäische Ursprungsidee durch Uniformität ersetzt, eigentlich müßte man schon „Uniformismus“ sagen ... (was) durch nichts demokratisch legitimiert ist.“

 

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