© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/11 27. Mai 2011

Die grüne Hölle von Ehra-Lessien
Wehrdienst: Anfang der neunziger Jahre als Artilleriebeobachter in Niedersachsen / JF-Serie, Teil 6
Hinrich Rohbohm

Nichts bleibt mir beim Rückblick auf die Bundeswehr-Zeit so stark in Erinnerung wie die „grünen“ Tage, wie die dreimonatige Grundwehrdienstzeit im Soldatenjargon genannt wird. Ich war beim Heer. Stationiert in der Von-Goeben-Kaserne in Stade beim Beobachtungsbataillon 33 des Artillerieregiments 3.

Es war Ende August 1992, als unsere Batterie  auf dem Kasernenhof antreten mußte, um letzte Instruktionen zu erhalten, was uns bei unserem zweiwöchigen Geländeeinsatz in Ehra-Lessien erwartet, einem Truppenübungsplatz in der Nähe von Wolfsburg. „Da werden Sie an ihre Leistungsgrenze gehen müssen“, schwört der Batteriechef die Truppe ein. „Da erwartet Sie die Hölle“, meint ein Unteroffizier mit einem breiten Grinsen im Gesicht. „Ist das da wirklich so schlimm, wie man sich erzählt?“ fragt ein verunsicherter Rekrut. Das Grinsen des Unteroffiziers wird noch breiter. „Sie kennen doch sicher den Spruch: Wer Ehra kennt, vergißt Vietnam“, schiebt er sichtlich amüsiert hinterher.

Die folgende Nacht ist kurz. Grelles Licht reißt unsere mit sechs Kameraden belegte Stube aus dem Schlaf. Wenige Minuten später stehen wir teils mürrisch, teils schlaftrunken abmarschbereit vor unserer Baracke. Per Bundeswehr-Bus geht es Richtung Wolfsburg und dann geradewegs mitten in den Wald. Ich hatte mir die „Hölle“ anders vorgestellt. Vor allem hatte ich sie mir heißer vorgestellt. In Ehra regnet es bei für August äußerst kühlen Temperaturen von etwa 13 Grad. Da lag ich nun des Nachts in einer Grube, angestrengt Ausschau haltend nach dem simulierten Feind, von dem wir nur wußten, daß er uns irgendwann in der Dunkelheit angreifen soll.

Jedes Knacken, jedes Rascheln wirft die Frage auf: Ist da jemand? Geht der Angriff los? Doch da ist nichts, da draußen in der Dunkelheit, in der man bei zunehmender Müdigkeit die abenteuerlichsten Dinge zu sehen glaubt. Schlaf gibt es wenig in Ehra-Lessien. Das Loch, in dem ich liege, füllt sich durch den Regen zunehmend mit Wasser. Zwei Stunden Wacheschieben in dieser nassen Pfütze. Dann geht’s zurück ins Nest und ich kann ein wenig schlafen, denke ich. Doch nach zwei Stunden ist von der Ablösung nichts zu sehen. Die Zeit verrinnt nur langsam. Der Kopf wird schwer, die Augen fallen immer wieder zu. Weitere zwei Stunden vergehen. Wo bleibt die Ablösung? Ich mache, was ich nicht machen soll, verlasse meinen Posten, sehe im Nest nach dem Rechten. Wie sich herausstellen sollte, hatten gleich zwei Kameraden ihren Wacheinsatz verschlafen. Egal. Meine Ablösung wird jetzt schnell geregelt. Ich lege mich ins Nest und mache die Augen zu. Schlafen. Endlich. Nichts würde mich nun davon abhalten. Nicht die Holzzweige, auf denen ich liege, nicht der zu harte Rucksack, den ich als Kopfkissen benutze, und auch nicht dieser nervige Regen, dessen Tropfen immer wieder ihren Weg in das Nest finden. Plötzlich ein lauter Knall. Schüsse. Schreie. Der Angriff des Feindes hat begonnen. Das darf doch nicht wahr sein. Warum ausgerechnet jetzt, denke ich, diese Nacht endgültig verfluchend.

Als die zwei Wochen um sind, sitzen wir wieder im Bus in die Kaserne. Es ist mucksmäuschenstill in dem Gefährt. Von einer scharfen Linkskurve aus den Träumen gerissen, blicke ich mich um. Kein Kamerad hat die Augen geöffnet. Die glattrasierten Gesichter sind einem Antlitz aus schwarz-grün verschmierter Tarnfarbe mit auswuchernd hervorsprießenden Bartstoppeln gewichen. Häupter, die es fertigbrachten, in den unmöglichsten Positionen zu verharren, um dringend nachzuholenden Schlaf zu bekommen. Nein, das war nicht „die Hölle“. Es war nur ein kleiner, simulierter Ausschnitt von etwas, was hoffentlich bei uns nicht Wirklichkeit wird, wofür wir aber während dieser Zeit auf dem Truppenübungsplatz ausgebildet wurden: Krieg.

Name: Hinrich Rohbohm

Dienstzeit: 07/1992 – 06/1993

Dienstgrad: Obergefreiter

Einheit: Artillerie

Garnison: Stade

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