© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/11 27. Mai 2011

Die Gefahren des arabischen Frühlings
Nahostkonflikt: Trotz heftiger Kritik Netanjahus präsentiert sich Obama weiter als standfester Freund Israels
Günther Deschner

Freunde waren Barack Obama und Benjamin Netanjahu noch nie. Der israelische Premier ist verantwortlich für die erste außenpolitische Demütigung des US-Präsidenten: Der hatte sich für einen vorläufigen Baustopp jüdischer Siedlungen im Westjordanland ausgesprochen – eine wichtige Forderung der Palästinenser und eine Voraussetzung für die Fortsetzung der Nahostgespräche. Doch Netanjahu ließ die Vermittlungsversuche des US-Präsidenten ins Leere laufen und trieb ungerührt den weiteren Siedlungsausbau im arabischen Ostteil von Jerusalem voran. Verärgert hatte Obama danach bei einem Treffen die Fotografen ausgesperrt, um keine Bilder mit Netanjahu zu liefern. Es ist auch kein Geheimnis, daß sich die beiden nicht über den Weg trauen: Obama ist unsicher, ob Netanjahu echte Friedensverhandlungen will oder ob er nur geschickt versucht, den Palästinensern die Schuld für ein erneutes Scheitern in die Schuhe zu schieben. Von einem „Mangel an Vertrauen“ wird gesprochen.

Mit einem neuen Nahost-Coup hat der US-Präsident den israelischen Premier jetzt offen gegen sich aufgebracht. Einen Tag vor dem Eintreffen Netanjahus in Washington, wo er auf Einladung des US-Kongresses eine Rede „von historischer Bedeutung“ halten wollte, kam ihm Barack Obama mit einer eigenen „Grundsatzrede zum arabischen Frühling“ zuvor, in der er „die Grenzen von 1967“ als Ausgangspunkt für neue Friedensverhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern bezeichnete – und damit eine heftige Kontroverse auslöste.

Die Stunden vor Obamas Rede müssen hektisch gewesen sein. Sein israelischer Amtskollege hatte den Redetext vorab erhalten und massiv bei Außenministerin Hillary Clinton interveniert, Obama müsse die Passagen über die israelisch-palästinensischen Grenzen vor 1967 herausnehmen. Richtig wütend geworden sei Netanjahu, berichtete die New York Times (NYT). Doch Clinton ließ den Anrufer abblitzen. „Ist das der neue Umgangston zwischen zwei engen Verbündeten?“ fragte das Blatt.

Netanjahus Ton wurde schärfer. Die Gründung eines Palästinenserstaates dürfe nicht auf Kosten der Existenz Israels erfolgen, gab er vor dem Abflug in die USA zu Protokoll. Aus Sicht der israelischen Presse steht die Visite unter einem schlechten Stern. Jediot Ahronot, die größte Zeitung des Landes, schrieb, Obamas Rede habe einen „Schock in Netanjahus Umfeld“ ausgelöst. Obamas Vorstellungen seien für Netanjahu wie ein „Keulenschlag“, hieß es im Leitartikel der Maariv. Kaum in den USA gelandet, wies der israelische Premier bei einem Treffen im Weißen Haus mit harten Worten Obamas Forderungen zurück. Das Verhältnis der engen Verbündeten Washington und Jerusalem schien an einem neuen Tiefpunkt angelangt.

Wenig später hatten beide Politiker Gelegenheit, ihre Positionen noch einmal an prominenter Stelle zu erläutern: Die in den USA einflußreichste jüdische Lobbygruppe, das American Israel Public Affairs Committee (Aipac), die am Wochenende in Washington ihr Jahrestreffen abhielt, hatte beide als Gastredner geladen. Der US-Präsident präsentierte sich vor den etwa 10.000 Aipac-Delegierten als standfester Freund des jüdischen Staates, der gerade deshalb glaubt, unbequeme Wahrheiten offen ansprechen zu können. Etwa die, daß die Zeit im Nahostkonflikt längst nicht mehr für Israel arbeitet.

„Hier sind die Fakten“, erklärte er: Die Zahl der Palästinenser westlich des Jordanflusses, also in Israel und den Palästinensergebieten, wachse rasant. Ohne Friedensabkommen werde es für Israel immer schwieriger, zugleich ein jüdischer und demokratischer Staat zu bleiben. Vor diesem Hintergrund will Obama seinen Vorstoß verstanden wissen – als Versuch, neue Verhandlungen zu ermöglichen und deren endgültiges Scheitern durch eine einseitige Proklamation eines Palästinenserstaates im September bei der UN-Vollversammlung zu verhindern. In Washington hält man es für wahrscheinlich, daß der „arabische Frühling“ an Fahrt gewinnt – und daß er zu einer Bedrohung für Israel führen könnte.

Die politischen Erschütterungen im Nahen Osten und Nordafrika würden immer unkalkulierbarer. Niemand weiß, wie sich die künftigen Machthaber in Ägypten, Tunesien und anderswo zu Israel verhalten. In dem Maße, wie sich arabische Staaten demokratisieren, werden sie wohl „propalästinensischer“. Zusätzliche Unwägbarkeiten bringe die innerpalästinensische Versöhnung zwischen Fatah und Hamas mit sich. Durch die Umbrüche könne Israel nicht mehr hoffen, Frieden einfach „mit einigen wenigen Führern auszuhandeln“. Daher dringt Obama darauf, daß Israel die Dynamik der revolutionären Veränderung nutzt und sich zu Konzessionen bereit erklärt. Wenn nicht jetzt, wann dann? Er habe Netanjahu gesagt, die neue Lage gestatte keinen Aufschub: „Wir können uns nicht erlauben, zwei oder drei Jahrzehnte auf Frieden zu warten. Die Welt bewegt sich zu schnell.“ Ohne glaubwürdigen Friedensprozeß werde Israel international weiter isoliert.

Die NYT will aus Obamas Umfeld erfahren haben, der Präsident rechne nicht mehr damit, daß Netanjahu die für den Friedensprozeß nötigen Zugeständnisse machen werde.

Foto: Wütende Palästinenser: An der ägyptischen Grenze des Gazastreifens erinnerten sie an das Schicksal ihrer Vorfahren bei der Gründung Israels

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