© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/11 27. Mai 2011

Karriereende in New York
Frankreich: Auch ohne Strauss-Kahn hoffen die Sozialisten auf einen Machtwechsel
Friedrich-Thorsten Müller

Die Wahrscheinlichkeit, daß der als Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF) zurückgetretene Dominique Strauss-Kahn 2012 Staatspräsident geworden wäre, betrug bis Mitte Mai über 50 Prozent. Der unpopuläre Amtsinhaber Nicolas Sarkozy lag seit Monaten in allen Umfragen hinter dem früheren Finanzminister deutlich zurück. Weitaus deutlicher als dies für andere Herausforderer der Sozialisten (PS) gilt, denen im ersten Wahlgang ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Sarkozy und Marine Le Pen vom Front National (FN) vorausgesagt wird.

Da der PS vor einer Neuauflage der Präsidentschaftswahlen von 2002 graut (damals kamen Jacques Chirac und FN-Chef Jean-Marie Le Pen in die Stichwahl), galt „DSK“ für die Kandidaten-Urwahl der PS im Oktober als gesetzt. Seine Verhaftung am 14. Mai auf dem Weg zu Angela Merkel – filmreif in einer Air-France-Maschine kurz vor deren Abflug auf dem New Yorker Flughafen JFK – traf daher die französische Öffentlichkeit wie ein Blitzschlag. Ein 32jähriges Zimmermädchen aus Westafrika hatte Kollegen zuvor erzählt, von ihm in der Suite 2806 des Sofitel in Manhattan zum Oralverkehr gezwungen worden zu sein. Wenige Stunden später landete der 62jährige unter riesigem Medientrubel in Untersuchungshaft. Nicht nur als Präsidentschaftskandidat, sondern auch als IWF-Chef war DSK damit erledigt.

Es war in Frankreich ein offenes Geheimnis, daß der dreimal verheiratete DSK ein notorischer Schwerenöter ist. So gab es bereits 2008 Vorwürfe, er habe mit der verheirateten IWF-Mitarbeiterin Piroska Nagy eine Affäre gehabt und ihr deshalb berufliche Vorteile verschafft. Aber französische Journalisten und die Öffentlichkeit pflegen – wie etwa bei der geheimen Zweitfamilie von Präsident François Mitterrand oder Giscard d’Estaings Romanzen – großzügig über die privaten Affären ihrer Politiker hinwegzusehen. Guy Birenbaums Buch „Nos délits d’initiés: Mes soupçons de citoyen“ (Unsere Vergehen als Insider – Mein Argwohn als Bürger), das Jacques Chiracs Liebesleben in Japan schildert, wurde selbst vom politischen Gegner nicht ausgeschlachtet.

So blieben auch die Fälle, in denen DSK sexueller Übergriffe bezichtigt wurde, ohne ernstes juristisches Nachspiel. Der Fall der Journalistin Tristane Banon, die 2002 von DSK angeblich während eines Interviews sexuell bedrängt wurde, wird nun wohl erstmals vor Gericht zur Sprache kommen. Ein 2010 anonym veröffentlichtes Buch („DSK: Les secrets d’un présidentiable“/Die Geheimnisse eines Präsidentschaftskandidaten) behauptet sogar, Strauss-Kahn habe während einer Dienstreise in Mexiko ein Zimmermädchen vergewaltigt.

Trotz alledem – DSK im Fernsehen in Handschellen als mutmaßlichen Vergewaltiger auf dem Weg in die amerikanische Untersuchungshaft vorgeführt zu bekommen, war außerhalb des Vorstellungsvermögens der französischen Öffentlichkeit. Schließlich gibt es in der „Grande Nation“ ein strenges Mediengesetz, das solche Bilder vor einer rechtsgültigen Verurteilung verbietet.

So ist es nicht verwunderlich, daß 57 Prozent der Franzosen laut einer Umfrage nicht ausschließen wollten, daß man DSK eine Falle gestellt habe. Ebenfalls 57 Prozent wünschen sich weiter einen Sieg der Linken im Frühjahr 2012. Sarkozy argumentierte staatsmännisch mit der Unschuldsvermutung. Der PS-Vize und DSK-Freund Harlem Désir forderte gar, daß die Regierung zugunsten Strauss-Kahns intervenieren müsse. Selbst der ansonsten dezidiert US-freundliche Philosoph Bernard-Henri Lévy sprach von „Treibjagd“ und „puritanischem Irrsinn“. Marine Le Pen fand für das Schweigen von „Frankreichs Oligarchie“ gleichwohl eine andere Erklärung. Sie äußerte den Verdacht, daß – wäre der Vorfall in Frankreich passiert – die französische „Nomenklatura“ diesen sogar vertuscht hätte. Schließlich sei hier, über alle politischen Lager hinweg, eine politische Kaste am Werk, die fürchte, künftig ihre Privilegien zu verlieren.

Vergangenen Sonntag versammelten sich in Paris immerhin 500 überwiegend weibliche Demonstranten, um gegen die laxe Reaktion der französischen Öffentlichkeit zu demonstrieren. Auch PS-Sprecher Benoît Hamon nahm an der Kundgebung teil. Die banalisierenden Äußerungen einiger bekannter französischer Intellektueller, wie Jean-François Kahn oder Jack Lang, seien einfach nur sexistisch, sagte die Veranstalterin Caroline de Haas von der Organisation „Wagt den Feminismus“.

Inzwischen scheint sich in New York aufgrund der DNA-Spurenlage der Verdacht zu erhärten, daß es tatsächlich zu sexuellen Handlungen in der Suite 2806 kam. Der verteidigende Staranwalt Benjamin Brafman sprach von „einvernehmlichen Verkehr“. Gleichzeitig haben sich auch Detektive darangemacht, Belastendes über das Leben und die Vergangenheit des mutmaßlichen Opfers zu finden. Sollte etwa der Antrag auf politisches Asyl (Grundlage ihres Aufenthaltsrechts) fingiert gewesen sein, könnte das die Glaubwürdigkeit der Beschuldigungen beeinträchtigen. Allgemein wird mit einem langen Verfahren und im günstigsten Fall einem mit viel Geld erkauften „Freispruch zweiter Klasse“ gerechnet.

Foto: Dominique Strauss-Kahn: Kommen auch andere Affären ans Licht?

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