© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/11 27. Mai 2011

Letzte Tabugrenze
Die Reaktionen auf Lars von Triers „Nazi“-Äußerungen sind überzogen
Martin Lichtmesz

Mit jedem neuen Film rennt Lars von Trier, das dänische enfant terrible unter den europäischen Filmregisseuren, gegen öffentliche Darstellungstabus und die Schmerzgrenzen seiner Zuschauer an, wohl zwanghaft austestend, ob er auch dieses Mal wieder davonkommt. Aber keine seiner filmischen Provokationen schlug bisher so ein, wie ein paar wirre Sätze über seine deutsche Herkunft, Hitler und Israel, die er auf einer Pressekonferenz bei den Internationalen Filmfestspielen in Cannes äußerte.

Nachdem der 55jährige den glitschigen Hang, auf den er sich begeben hatte, zu Ende gerutscht war, versuchte er, sich mit dem scherzhaft gemeinten Spruch „Okay, ich bin Nazi“ aus dem Fettnäpfchen zu ziehen. Das und alle nachträglichen Erklärungen und Entschuldigungen halfen nichts. Sind die entsprechenden Affektknöpfchen einmal gedrückt, ist kein Platz mehr für nüchternes Denken. Die Medien stellten von Trier als NS-Sympathisanten hin, und die Festivalleitung von Cannes erhob gar den Zeigefinger und erklärte ihn zur „persona non grata“; in mehreren Ländern soll sein neuer Film „Melancholia“, ein Weltuntergangsepos mit Kirsten Dunst, Kiefer Sutherland und Charlotte Rampling, nicht gezeigt werden dürfen.

Daß jemand glaubt, auf irgend-eine Weise Hitler zu verstehen, ist nicht neu. Thomas Mann hat es in „Bruder Hitler“ versucht, und Bruno Ganz im Eichinger-Spektakel „Der Untergang“. Lars von Trier hat sich nun weder besonders kohärent noch präzise ausgedrückt. Die Reaktion der Festivalleitung ist aber ebenso überzogen wie das laute Mediengehupe. Hitler, sechsundsechzig Jahre nach seinem Tod, als letzte, absurd übersetzte Tabugrenze einer permissiven Gesellschaft ist ebenso lächerlich wie verlogen.

Das hysterische, humorbefreite Gouvernantengetue, das die Überschreitung dieser Grenze mitunter auslöst, ist ein Ärgernis für erwachsene Menschen. Hitler ist weder ein Gott noch ein Teufel, sondern ein Teil der Geschichte. Daß dergleichen Reizpunkte für einen Charakter wie Lars von Trier eine unwiderstehliche Wirkung haben, steht freilich auf einem anderen Blatt.

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