© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/11 27. Mai 2011

Ein Disput, der nicht vergehen will
Der vor 25 Jahren durch einen Aufsatz des Historikers Ernst Nolte angestoßene Historikerstreit beschleunigte die Politisierung der Geschichtswissenschaft
Karlheinz Weissmann

Wer am 6. Juni 1986 das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen aufschlug, dessen Blick fiel auf einen in zwei Spalten gesetzten Text. Die Überschrift „Vergangenheit, die nicht vergehen will“ sorgte kaum für besondere Aufmerksamkeit, eher schon der Hinweis, daß es sich um einen Vortrag des Historikers Ernst Nolte handelte, der eigentlich bei den Frankfurter Römerberggesprächen gehalten werden sollte. Die Veranstalter hatten den Referenten kurzfristig wieder ausgeladen, woraufhin sich die FAZ entschloß, den Inhalt der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Nolte hat später geäußert, es sei „reiner Zufall“ gewesen, daß die Publikation dieses Textes den „Historikerstreit“ ausgelöst habe. Dafür spricht, daß er schon 1980 – im Rahmen einer Buchbesprechung, die gleichfalls in der FAZ erschien – Thesen aufgestellt hatte, die vieles von dem vorwegnahmen, was jetzt Anlaß für einen Skandal bot. Dazu gehörte etwa die grundsätzliche Anerkennung des zeitgeschichtlichen „Revisionismus“, insofern dieser auf sonst ignorierte Fakten hinwies und berechtigte Überlegungen anstellte. Diese Einschätzung Noltes bezog sich in erster Linie auf den Briten David Irving, der etwa geäußert hatte, daß man die Maßnahmen zur „Endlösung der Judenfrage“ während des Zweiten Weltkriegs im Zusammenhang sehen müsse mit Vorgängen wie der „Kriegserklärung“ gegen das Deutsche Reich, die der Präsident der Jewish Agency, Chaim Weizmann, Anfang September 1939 im Namen der Juden aller Welt abgegeben hatte.

Die hier schon deutlich werdende Bereitschaft Noltes, moralisch begründete Frage- und Forschungstabus der Zeitgeschichte zu ignorieren und für das Handeln Hitlers oder der nationalsozialistischen Führung nachvollziehbare Gründe anzunehmen, war das, was Nolte nach Erscheinen von „Vergangenheit, die nicht vergehen will“ zum Vorwurf gemacht wurde. Dabei ging es in Sonderheit um zwei Behauptungen: Zunächst darum, daß es einen „kausalen Nexus“ zwischen dem roten „Klassenmord“ und dem braunen „Rassenmord“ gegeben habe, und dabei der kommunistischen das „faktische Prius“ gegenüber der nationalsozialistischen Massenvernichtung zukomme.

Noch aufreizender wirkte allerdings eine Erwägung, die Nolte in Frageform kleidete: „Vollbrachten die Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler eine ‘asiatische’ Tat vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Opfer einer ‘asiatischen Tat’ betrachteten?“ Es war dem Fortgang der Argumentation anzumerken, daß Nolte dazu neigte, diese Frage zu bejahen, womit er nicht nur den deutschen oder europäischen Charakter der „Endlösung“ bestritt, sondern auch noch eine partielle Rationalität im Aufstieg und der Akzeptanz der nationalsozialistischen Bewegung wie in deren Politik, bis hin zu Kriegführung und Vernichtung des europäischen Judentums, wirksam sah.

Man hat Nolte später das hier angewandte Verfahren vorgeworfen, die Neigung manches Argument in der Schwebe zu halten. Aber am Ende von „Vergangenheit, die nicht vergehen will“ war seine Stoßrichtung deutlich genug, insofern als er einen „Schlußstrich“ unter der deutschen Vergangenheitsbewältigung forderte: „Für den Historiker ist eben dies die beklagenswerte Folge des ‘Nichtvergehens’ der Vergangenheit: daß die einfachsten Regeln, die für jede Vergangenheit gelten, außer Kraft gesetzt zu sein scheinen, nämlich daß jede Vergangenheit mehr und mehr in ihrer Komplexität erkennbar werden muß, daß der Zusammenhang immer besser sichtbar wird, in den sie verspannt war, daß die Schwarz-Weiß-Bilder der kämpfenden Zeitgenossen korrigiert werden, daß frühere Darstellungen einer Revision unterzogen werden.“

Mit diesem provozierenden Bekenntnis zur „Revision“ verstieß Nolte ganz offen gegen die seit der linken Kulturrevolution geltenden Denkregeln. Zu deren Kernbestand gehörte vor allem die dann im „Historikerstreit“ immer wieder beschworene „Singularität“, „Einzigartigkeit“, „Unvergleichbarkeit“ der Judenvernichtung, die nicht „relativiert“ werden dürfe, auch und gerade nicht durch den Verweis auf andere Genozide. Denn solches Relativieren bedeute den „Bruch mit dem Westen“ (Heinrich August Winkler), denn es konnte Zweifel an der exzeptionellen Bösartigkeit des „Faschismus“ im allgemeinen und Hitlers im speziellen wecken, was wiederum die progressive Geschichtspolitik mit ihrer Fixierung auf die „deutsche Schuld“ grundsätzlich in Frage stellen mußte.

Nolte ging es zwar nicht um „Nationalapologetik“ (Heinrich August Winkler), wie ihm seine Gegner von Anfang an und immer wieder vorwarfen, aber durchaus darum, den „negativen Nationalismus“ zu korrigieren, den man fest im Selbstbild der Deutschen zu verankern suchte. Das erklärt die Aggressivität von Noltes Hauptgegner Jürgen Habermas, der ihm nicht nur vorwarf, historische „Schadensabwicklung“ zu treiben, mit dem Ziel ein „geschlossenes Geschichtsbild“ wie „zu Kaisers Zeiten“ zu schaffen, sondern ihm auch Klitterung und Scheinheiligkeit im Moralischen vorwarf. Die Unversöhnlichkeit war eine Folge der Beunruhigung in den tonangebenden Kreisen, die ihre Deutungsmacht gefährdet sahen und sich Noltes Vorstoß nur als Teil eines Masterplans der bürgerlichen Koalition zu erklären wußten, die nach der „Wende“ von 1982 vorsichtig versuchte, das Kollektivbewußtsein neu auszurichten.

Für eine gewisse Aussicht auf Erfolg solcher Bemühungen sprach nicht nur die allgemeine Erschöpfung durch volkspädagogische Lektionen, sondern auch die Lebhaftigkeit der Identitätsdebatte am Anfang der achtziger Jahre. Aber das Scheitern der vorsichtigen Experimente mit einem zahmen Patriotismus, der Eklat nach Helmut Kohls Rede von der „Gnade der späten Geburt“ bei seinem Staatsbesuch in Israel, sein gescheiterter Versuch, als Bundeskanzler an den Siegesfeiern der Alliierten in der Normandie teilzunehmen, und die sogenannte Bitburg-Affäre, bei der es um die Ehrung deutscher Gefallener – auch aus den Reihen der Waffen-SS – gegangen war, zeigten rasch, daß die Forderung, die Deutschen sollten aus „dem Schatten Hitlers heraustreten“ (Franz Josef Strauß) auf den erbitterten Widerstand zahlenmäßig kleiner, aber einflußreicher Gruppen traf und die Masse desinteressiert blieb.

Die Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 8. Mai 1985 mit der Feststellung, das Kriegsende sei eine „Befreiung“ gewesen, war das Signal zum bürgerlichen Rückzug. Die schwarz-gelbe Regierung übernahm in der Folgezeit nicht nur die geschichtspolitischen Konzepte ihrer Vorgänger, sondern überbot diese sogar noch. Das allein erklärte schon das völlige Fehlen jeder politischen und die Schwäche der fachlichen Rückendeckung für Nolte, der sich gezwungen sah, den „Historikerstreit“ fast ohne Verbündete zu bestehen. Das erklärt weiter, warum sich seine Argumente – trotz ihres Gewichts – nicht durchsetzen ließen. Der Gegner war an Argumenten auch gar nicht interessiert, sondern focht nur um Interpretationshoheit.

Man hat den „Historikerstreit“ als „eine der letzten Schlachten um das Selbstverständnis der alten Bundesrepublik“ (Michael Jeismann) bezeichnet. Hinzuzufügen wäre allerdings, daß seine Nachwirkungen bis heute spürbar sind, daß noch im Streit um die Vertriebenenstiftung, in der Auseinandersetzung um die „Aufarbeitung“ der Vergangenheit des Auswärtigen Amtes oder der Unflat, mit der der scheidende Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, Horst Möller, bedacht wurde, etwas nachwirkt von den alten Kämpfen, den Frontlinien und dem unterschwelligen Bewußtsein der Sieger, daß der Sieg unverdient war.

Foto: „FAZ“-Artikel vom 6. Juni 1986 und sein Autor, der Berliner Historiker Ernst Nolte: Seine Gegner waren an Argumenten gar nicht interessiert, sondern fochten nur um ihre Interpretationshoheit

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