© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/11 27. Mai 2011

Den Kleinen muß der Streß erspart bleiben
Klage über den Rückmarsch in die sozialistische Krippenerziehung und die schädlichen Auswirkungen in der frühkindlichen Phase
Mathias von Gersdorff

Empört vom Vorhaben der Großen Koalition, das Angebot an Krippenplätzen flächendeckend auszubauen, hat sich Hanne Götze dazu entschlossen, über ihre Beobachtungen und Erfahrungen als Mutter aus der Realität der Kinderkrippen in der untergegangenen DDR in ihrem Buch „Kinder brauchen Mütter“ zu berichten. Für sie ist diese Politik die „bitterste ‘Pille’ der Entwicklung nach der Wende“. Götze ging fest davon aus, daß die Krippen verschwinden würden, daß aber gerade die Christdemokraten den Ausbau energisch vorantreiben und sogar das letzte Kindergartenjahr zur Pflicht machen würden, ist für die Autorin geradezu ein Schock.

Die Diplombibliothekarin, Vollzeitmutter und Stillberaterin ist in der DDR aufgewachsen und wurde dort Mutter von vier Kindern. Als sie ansehen mußte, wie Babys, die im DDR-Krippensystem aufgezogen werden sollten, auf die Trennung von ihren Müttern reagierten, war für sie sofort klar, daß sie ihre eigenen Kinder nicht in die kommunistische Fremdbetreuung schicken würde. Panik, verzweifeltes Schreien, Streß kamen bei den Babys auf, als ihre Mütter sie in die Krippen brachten. Schlimmer noch war mit anzusehen, wie diese Kinder nach einiger Zeit schließlich resignierten und nur noch stumpf vor sich hinblickten. Aus ihren Augen waren die Freude und die kindliche Neugierde gewichen. Kinder verbrachten einen wichtigen Teil des Tages in einem apathischen Zustand.

Götzes Buch enthält sehr viele Erfahrungsberichte, eigene und fremde. Auch Erzieherinnen und sonstiges Krippenpersonal kommen zu Wort. Zum Beispiel Marion S. aus einer mittelgroßen Stadt Thüringens. Sie schildert „das furchtbare Schreien“, als die Kinder in der Krippe abgegeben wurden. Noch zu DDR-Zeiten habe sie mehrere Jahre lang mit ihren Eltern in einem Haus gewohnt, in dessen Erdgeschoß eine Krippe untergebracht war: „Jeden Morgen um 6 Uhr hätte dieses furchtbare Schreien begonnen. Es sei so schrecklich gewesen, daß sie sich geschworen hätte, niemals ein so kleines Kind wegzugeben. Wenn sie selbst einmal Kinder bekäme.“

Einige Berichte in Götzes Buch könnten aus einem Horrorbuch stammen: „Eine andere Mutter erzählte, daß ihr kleiner Junge auf dem Weg zur Einrichtung im Kinderwagen bereits wimmerte: ‘Sitten bleiben, sitten bleiben!’ Dort angekommen, hätte er sich krampfhaft am Wagen festgehalten und sich steif gemacht, um tatsächlich sitzen zu bleiben. Mit seiner ganzen Kraft hätte er gegen das Unvermeidliche gekämpft. Eine Frau erzählte davon, daß sich ihr Kind regelrecht in die Polster des Kinderwagens verbissen hätte, wenn es morgens in die Krippe ging.“Hanne K. Götzes Buch ist somit ein wichtiger Beitrag zur Debatte über den Sinn oder Unsinn des flächendeckenden Krippenausbaues, der seit der Großen Koalition zwischen Union und SPD (2005–2009) vorangetrieben wird und an dessen Ausführung die damalige Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen – ihren sieben Kindern blieb ein Krippenschicksal übrigens erspart – federführend war. Die Autorin erhebt nicht den Anspruch, eine wissenschaftliche Abhandlung zu liefern. Das Buch ist auch kein Ratgeber zur Kleinkindbetreuung.

Wie in der Forderung im Titel ankündigt, fokussiert sich die Autorin auf die Rolle der Beziehung der Mutter zu ihrem Baby, und damit ist ihr Buch nicht nur ein wertvoller Beitrag für die Krippendebatte, sondern auch zur schon länger anhaltenden Diskussion über die richtige Erziehung angesichts einer wachsenden Zahl von Problemkindern, wie zuletzt vom Pädagogen Achim Schad („Kinder brauchen mehr als Liebe“), dem Kinder- und Jugendpsychiater Michael Winterhoff („Warum unsere Kinder Tyrannen werden“) und dem Pädagogen Bernhard Bueb („Lob der Disziplin“) beklagt.

Götze beläßt es nicht bei Erfahrungsberichten, sondern läßt die wissenschaftliche Literatur über die Bedeutung der Mutterbeziehung für die kindliche Persönlichkeitsentwicklung Revue passieren. Die Trennung des Kleinkindes von der Mutter ist ein ungeheurer Streßfaktor. Das Kind kann nicht einschätzen, was ihm geschieht, weil es noch kein Zeitempfinden besitzt, das Wegsein der Mutter wird als endgültig, als ewiger Fakt empfunden. Öfter wird der tschechische Kinderpsychologe Zdenek Matejcek (1922–2004) zitiert, der noch während des Kommunismus die Krippenerziehung unter die Lupe nahm und aufgrund dessen kritischen Beurteilungen – Matejcek sprach von „Separationsangst“ – die Regierung dieses Erziehungsprogramm sogar abbaute.

Die österreichische Psychologin Lieselotte Ahnert lieferte in ihrer „Wiener Kinderkrippenstudie“ erste Zwischenergebnisse und konnte tatsächlich feststellen, daß der Anstieg des Streßhormons Cortisol (Cortisol hilft, den Streß zu bewältigen) aufgrund der Trennung der Kleinkinder von ihren Müttern erheblich sei: „Je jünger ein Kind ist, desto empfindlicher reagiert es auf Streß.“ Auch ein Kind, das sich sicher an seine Erzieherin gebunden fühle, bleibe davon nicht verschont. Die Expertin erklärt das so: „Die sichere Bindung in der Krippe ist etwas anderes als das Zuhause.“ Die Erzieherin sei emotional nicht immer verfügbar, sie müsse sich um mehrere Kinder gleichzeitig kümmern, habe Urlaub und fehle auch mal wegen Krankheit.

Die Hoffnung mancher Krippenbefürworter, die „soziale Kompetenz“ der Kinder würde steigen, erfüllt sich nicht, denn, Matejcek zitierend, das Kleinkind ist bis zu einem gewissen Alter noch ein Einzelwesen, das sich nicht auf andere einstellen könne. Die Trennung von der Mutter stürzt das Kind dann in ein Vakuum, es verliert seinen Bezugspunkt und gerät in Panik und kann erschreckend aggressiv werden.

Götzes Buch ist ein Plädoyer für die Wieder- und Neuentdeckung der Mütterlichkeit. Deshalb erwidert sie ausführlich die gängigen Mythen und Kritikpunkte gegen das Muttersein, wie etwa die mangelnde Selbstverwirklichung, die Gefahr der Verhätschelung der Kinder, die fehlende Gleichberechtigung usw. Auch geht sie mit den üblichen Begründungen für den Krippenausbau hart ins Gericht, wie etwa der Behauptung, Krippen würden die Geburtenrate erhöhen oder Krippen seien gut für sozial benachteiligte Kinder.

Hanne K. Götze: Kinder brauchen Mütter. Die Risiken der Krippenbetreuung – Was Kinder wirklich stark macht. Ares Verlag, Graz 2011, gebunden, 277 Seiten, 19,90 Euro

Foto: Ehemaliges sozialistisches Kleinstkinderwochenheim in Berlin-Köpenick, Alltag in DDR-Kinderkrippe in Hoyerswerda1963: „Jeden Morgen um 6 Uhr dieses fürchterliche Schreien der Kinder“

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