© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/11 03. Juni 2011

Sauerstoff für Flandern
Belgien: Ein provokanter Plan für die korrekte Aufteilung des Königreiches
Mina Buts

Mittlerweile ist es fast vergessen, daß das Königreich Belgien auch ein Jahr nach den Parlamentswahlen noch keine Regierung hat. Im nördlichen Landesteil hatten sich viele Wähler für flämisch-nationale Parteien wie die N-VA oder den Vlaams Belang (VB) entschieden, in Wallonien gewannen die linken Parteien.

Etliche Vermittler des Königs sind bereits verschlissen worden, ohne daß eine Regierung zustande kam. Und so verfestigt sich die Auffassung, daß Belgien bereits so stark föderalisiert ist, daß es auch ohne Zentralregierung auskommen könnte – was im Umkehrschluß dann aber auch bedeuten könnte, daß das Gesamtkonstrukt Belgien so unwichtig geworden ist, daß seiner Auflösung nichts mehr im Wege steht. Seit längerem gibt es von wallonischer Seite den Plan B für eine Region „WalloBrux“, also den französischsprachigen Landesteil erweitert um die Hauptstadt Brüssel.

Es ist ein offenes Geheimnis, daß der wallonische Premier Elio di Rupo schon vor Monaten den König fragte, ob er sich die Regentschaft eines verkleinerten Reichs vorstellen könnte. Nun liegt auch von flämischer Seite eine Ausarbeitung vor, wie eine Aufteilung des Landes de facto vonstatten gehen könnte. Unter dem Titel „Die ordnungsgemäße Aufteilung von Belgien. Sauerstoff für Flandern“ hat sich der flämische Abgeordnete Gerolf Annemans (VB) mit dem Leiter des VB-Studiendienstes, Steven Utsi, darangemacht, gründlich auszuarbeiten, wie der Staat Belgien abgewickelt werden kann. Die erste Auflage des Buches war nach kurzer Zeit ausverkauft; beachtlich, da der VB-Verlag auf der Antwerpener Buchmesse boykottiert wird.

Annemans erklärt, er habe zeigen wollen, daß das Aufgeben Belgiens nicht Chaos und Revolution bedeuten müsse. Letzte Woche hat er dem tschechischen Präsidenten Václav Klaus in Antwerpen sogar die erste englische Ausgabe des Buches überreicht. Nach einer Darstellung der Staatengeschichte seit 1900 – hübsch die Übersicht, wie viele Staaten von der Landkarte verschwunden und wieder aufgetaucht sind – erläutert Annemans akribisch die Grundlagen der Staatstheorie, die Rolle der internationalen Gemeinschaft und die Bedeutung des Völkerrechts, um dann eine Strategie aufzuzeigen, wie ein flämischer Staat entstehen kann.

Alle Belange des Staates werden abgearbeitet, sei es die Innen- und Außenpolitik, die Migration, Verteidigung, Justiz und Sicherheit, Mobilität, Sozialwesen, selbst die Verteilung der Staatsschulden wird nicht ausgelassen, um dann zu der Schlußfolgerung zu kommen, es dürfe keine Zeit mehr verloren werden. Spannend ist der Blick auf Brüssel, das auch die Wallonen für sich beanspruchen. Obwohl Brüssel „lästig und teuer“ sei, so Annemans, könne die Hauptstadt nicht an Wallonien angeschlossen werden, das verbiete schon die geographische Lage. Zwar sei es unumgänglich, Brüssel – anders als das Umland – als zweisprachiges Gebiet zu erhalten, aber es gehöre nun einmal zu Flandern und sei auch künftig flämische Hauptstadt.

Dauerkonflikt um weitere Föderalisierung

Wie es in Belgien weitergeht, ist weiter offen. Es wächst aber bei den Parteien das Bewußtsein, daß nach so einer langen Zeit des Beharrens jedes Zugeständnis verheerend wirken könnte. Bart de Wever, Chef der stärksten Partei N-VA, weiß, daß er nicht auf die wallonische Forderung, auf eine weitere Föderalisierung zu verzichten, eingehen kann. Denn viele seiner Wähler haben ihm nur deshalb ihre Stimme gegeben, weil die noch weiter rechts stehende Alternative VB bislang durch den „cordon sanitaire“ von jeder Regierungskoalition ausgeschlossen ist.

Würde De Wever nun einknicken, könnte sich das bei den nächsten Wahlen rächen. Der VB hat sich unterdessen von seinem Umfragetief erholt und könnte bei Wahlen wieder mit etwa 13 Prozent der Stimmen rechnen. Vor zwei Wochen ist es der bislang ausgegrenzten Partei erstmals nach 25 Jahren gelungen, ein Gesetzesvorhaben vom Parlament zur Verhandlung annehmen zu lassen. Dabei geht es um die immer noch umstrittene Amnestie für die Kollaborateure mit dem Dritten Reich. Daß alle flämischen Parteien mit Ausnahme der Grünen dafür stimmten, mag als ein erstes Indiz gewertet werden, daß der „cordon sanitaire“ aufgeweicht wird.

Sozialisten-Chef Di Rupo und De Wever von der flämischen N-VA: Ein Jahr ohne Zentralregierung

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