© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/11 03. Juni 2011

Auf dem Weg zum Märtyrer
Rußlands berühmtester Häftling: Michail Chodorkowskis Briefe aus dem Gefängnis
Christian Dorn

Wo der Zar ist, herrscht auch Angst.“ Was der russische Volksmund sich einst zuraunte, erwacht unter der von Wladimir Putin reanimierten „Vertikale der Macht“ zu neuem Leben. In dieser, so beschreibt es der Schriftsteller und Publizist Boris Schumatsky, machten sich die verängstigten Leute „keine Illusionen über die Unbestechlichkeit der Bürokratie und nehmen die Korruption bewußt in Kauf. Genau darin besteht ihr Teil der Abmachung. Als Gegenleistung für die staatliche Vorsorge verzichten die Untertanen auf jegliche Einmischung in Angelegenheiten des Staates.“

Folglich hat sich seit Putins Machtantritt die Korruption in Rußland weiter verstärkt, ebenso der von Präsident Medwedew kritisierte „Rechtsnihilismus“. Deutlichstes Beispiel hierfür ist die juristische Farce der Prozesse gegen Michail Chodorkowski, den ehemals reichsten Mann und heute berühmtesten Häftling Rußlands.

Zwei Tage nachdem das Moskauer Stadtgericht den Berufungsantrag des einstigen Yukos-Chefs und seines Geschäftspartners Platon Lebedew gegen ihre im Dezember 2010 erfolgte zweite Verurteilung abgelehnt hatte, wurden im Foyer des Berliner Maxim-Gorki-Theaters Chodorkowskis „Briefe aus dem Gefängnis“ präsentiert.

Die Absurdidät der Anklageerhebung und Verurteilung – im ersten Prozeß wurde Chodorkowski wegen angeblicher Steuerhinterziehung verurteilt, im zweiten Prozeß, weil er angeblich mit gestohlenem Gut gehandelt habe, das also gar nicht besteuerungsfähig gewesen wäre – war für Chodorkowski ausschlaggebend, seine Verteidigungsrede vor Gericht gar nicht mehr auf die konkreten Vorwürfe zu richten. Statt dessen richtete einen Appell an das Gemeinwesen Rußlands. So ginge es in dem Prozeß gar nicht um ihn oder Lebedew, sondern „um die Hoffnung vieler unserer Mitbürger“ darauf, „daß das Gericht morgen ihre Rechte wird verteidigen können“. Daß der Angeklagte dem Richter zur Urteilsfindung „Mut“ wünschen muß (denn „vielleicht haben Sie sogar Angst“), belegt an anderer Stelle der Bericht über die „Verhöhnung des Rechts“ des Rechtswissenschaftlers Otto Luchterhandt.

Chodorkowski selbst scheint indes seine neue Rolle als nationaler Märtyrer angenommen zu haben. In seinem Schlußplädoyer am 2. November 2010 bekennt er seine Angst, nicht im Gefängnis sterben zu wollen. „Aber wenn es sein muß, werde ich nicht schwanken. Meine Überzeugung ist mir mein Leben wert.“ Wie sehr dieser Opfergang für das russische Volk den einstigen Oligarchen als innere Mission erfüllt zu haben scheint, bezeugen die Zeilen an seine Eltern: „Macht Euch keine Sorgen. Stellt Euch einfach vor, ich sei auf einer langen Geschäftsreise, genauer: ich diente in der Armee eines demokratischen Rußland. Das finde ich übrigens wirklich. Es ist sehr ähnlich.“

Eine solche Haltung ließe an Solschenizyn denken, der meinte, daß die Gefängniserfahrung den Menschen abhärtet und an sich wertvoll sei. Im Briefwechsel mit der Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja, einer der wichtigsten Gegenwartsautorinnen Rußlands, widerspricht Chodorkowski dann aber doch und hält es eher mit den Ansichten des einstigen Lagerinsassen Warlam Schalamow.

Daß Chodorkowski mit seinem Schicksal, seinem Kampf für einen russischen Rechtsstaat, dennoch historische Vergleiche auf sich zieht, zeigt nicht zuletzt der in dem Buch ebenfalls enthaltene Essay von Erich Follath, der die Anklage des Angeklagten Chodorkowski in eine Reihe stellt mit dem „J’accuse“ eines Emile Zola oder der Verteidigungsrede Fidel Castros vor der Revolution: „Die Geschichte wird mich freisprechen.“ Natürlich weiß auch Follath, der Chodorkowskis Lebensweg anhand mehrerer von ihm geführter Interviews nachzeichnet, nicht, wie die Geschichte ausgehen wird. Eines aber sei sicher: Wenn Chodorkowski 2016 entlassen wird, werde er immer noch relativ jung sein – „jedenfalls jünger als Putin heute“.

Wie weit dann die „Russische Apokalypse“ (Viktor Jerofejew) gediehen ist, scheint indes ebenso unklar wie die russische Realität der Gegenwart. Denn, so Jerofejew: „Wenn du dein Geld in Rußland hortest, bist du verrückt, wenn du es ins Ausland geschafft hast, dann bist du ein Feind Rußlands.“ Wie ist ein Entkommen daraus möglich? Für den berühmten Science-fiction-Autor Boris Strugazki, der ebenfalls Korrespondenz mit dem prominenten Häftling führt, kommt die Hoffnung nicht durch ein politisches Programm, sondern allenfalls durch einen neuen Gorbatschow. Es ist eine trostlose Vision, die der zur Buchpräsentation anwesende, in Amerika lebende Sohn Pavel Chodorkowski auf seine Weise bestätigt: „Hoffnung gibt es eigentlich immer, aber im heutigen Rußland gibt es keine Hoffnung auf einen Rechtsstaat.“ Ähnlich formulierte es Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger, die das Buch im Maxim-Gorki-Theater vorstellte.

Chodorkowski junior hat seinen Vater seit siebeneinhalb Jahren nicht mehr gesprochen, weil ein Telefongespräch verweigert wird. Daß der Sohn dies aber hier erzählen kann, hat ebenfalls seine Funktion: Es sei nicht zuletzt die Öffentlichkeit des Westens, so Pavel Chodorkowski, die seinen Vater am Leben erhält.

Michail Chodorkowski: Briefe aus dem Gefängnis. Mit einem Essay von Erich Follath, Knaus, München 2011, gebunden, 288 Seiten, Abbildungen, 19,99 Euro

Foto: Häftling Michail Chodorkowski (Erstes Verfahren), Zeichnung von Denis Pitano: „Meine Überzeugung ist mir mein Leben wert“

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