© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/11 03. Juni 2011

Deutschland galt seit der Oktoberrevolution als nächstes Ziel
Serie Präventivkrieg Barbarossa, Teil 1: Langfristige Angriffsdrohungen des später Angegriffenen
Stefan Scheil

Die Sowjetunion verstand sich seit ihrer Gründung als Staat der Weltrevolution und präsentierte sich auch öffentlich so. Dahinter stand zum einen die Ansicht, daß ein sozialistischer Staat sich in einem nichtsozialistischen Umfeld ohnehin nicht konfliktfrei behaupten konnte, zum anderen die oft erklärte Absicht, daß die russische Oktoberrevolution nur der Auftakt zu einer Weltrevolution gewesen sein konnte.

Der aus solchen Ansichten und den tatsächlichen wirtschaftlich-politischen Entwicklungen notwendig resultierende Gegensatz der UdSSR zu den kapitalistischen Nachbarstaaten ist im Prinzip unstrittig. Unstrittig ist auch, daß sich die unmittelbaren Hoffnungen für eine substantielle Besserung der Lage der UdSSR direkt auf Deutschland richteten; so daß Lenin im weiteren bereits im Frühjahr 1920 davon ausging: „Wir werden auf jeden Fall trotz aller denkbaren Peripetien zugrunde gehen, wenn die deutsche Revolution nicht eintritt.“

Das Deutschlandbild der sowjetischen Führung blieb ein besonderes, zum einen wegen der wirtschaftlichen und geopolitischen Gegebenheiten, die Deutschland als einen der bedeutendsten und zentral gelegenen Industriestaaten für den Fall eines Zusammengehens mit der UdSSR zu einem Schlüsselstaat für den weiteren Fortgang der Revolution werden ließ. Dazu gesellte sich die Erinnerung an Deutschland als Herkunftsland von Karl Marx und Friedrich Engels, eine Perspektive, die sich Vertreter der sowjetischen Besatzungsmacht auch nach 1945 noch bewahrten.

So berichtete der Sozialdemokrat Otto Grotewohl von einem Zusammentreffen mit Marschall Georgij Schukow, dem Kommandeur der sowjetischen Streitkräfte auf deutschem Boden, der einen persönlichen Wunsch geäußert hatte: „Wir sollten in ihm nicht nur einen Vertreter einer Siegermacht sehen, sondern in erster Linie einen Freund des deutschen Volkes, vor allem der deutschen Arbeiterklasse, der er helfen wolle. Karl Marx und Friedrich Engels, denen die internationale Arbeiterklasse unendlich viel verdanke, seien Deutsche gewesen. Und mit allen Deutschen, die diese großen Söhne ihres Vaterlandes verehren, fühle er sich aufs engste verbunden.“

So schloß sich ein Kreis, denn es war Schukow als Generalstabschef gewesen, der im Mai 1941 den ausgefeiltesten Plan für den sowjetischen Angriff auf die deutsche Wehrmacht vorgelegt hatte, der zunächst bis Breslau führen sollte und von dem noch die Rede sein wird. Schukow hatte 1945 schließlich auch den Angriff der Roten Armee auf Berlin kommandiert, und sein späterer Appell an die deutsche Arbeiterklasse kontrastierte hart mit der brutalen Realität dieser Eroberung.

Das galt eben auch für die Arbeiterklasse, wie Bert Brecht 1948 notierte: „Immer noch, nach den drei jahren, zittert unter den arbeitern, höre ich allgemein, die panik, verursacht durch die plünderungen und vergewaltigungen nach, die der eroberung von berlin folgten. in den arbeitervierteln hatte man die befreier mit verzweifelter freude erwartet, die arme waren ausgestreckt, aber die begegnung wurde zum überfall, der die siebzigjährigen und die zwölfjährigen nicht schonte und in voller öffentlichkeit vor sich ging. es wird berichtet, daß die russischen soldaten noch während der kämpfe von haus zu haus, blutend, erschöpft, erbittert, ihr feuer einstellten, damit frauen wasser holen konnten, die hungrigen aus den kellern in die bäckereien geleiteten, die unter trümmern begrabenen ausgraben halfen, aber nach dem kampf durchzogen betrunkene horden die wohnungen, holten die frauen, schossen die widerstand leistenden frauen und männer nieder, vergewaltigten vor den augen von kindern, standen in schlangen an vor häusern usw.“

In der Person Georgij Schukow bündeln sich somit gleich mehrere Aspekte der sowjetischen Offensivabsichten. Kennzeichnend dafür sind der grundsätzliche ideologische Reiz, die aktuelle Absicht für das Jahr 1941 und die letztlich barbarische Praxis des Sowjetregimes in der Ausführung seiner Pläne. All dies war in Berlin bekannt und prägte das Bewußtsein der führenden Nationalsozialisten bis hin zu dem Eindruck, daß sich der Nationalsozialismus ganz allgemein als antisowjetische Furchtbewegung interpretieren läßt, ein Standpunkt, den insbesondere Ernst Nolte in vielen Publikationen vertreten hat.

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