© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/11 03. Juni 2011

Ökologische Gemeinschaftsideologie
Darwins revitalisierte Theorien dominieren den Denkstil unserer Epoche: Eine neue „Bescheidenheitsideologie“ auf dem Vormarsch?
Gerd Zeller

Der US-Evolutionsbiologe Edward Osborne Wilson, Jahrgang 1929, begründete sein wissenschaftliches Ansehen mit Forschungen über soziale Insekten, mit Spezialstudien über die Kommunikation im Ameisenhaufen. Sein Kollege Jared Diamond, geboren 1937, begann als Physiologe, wechselte dann zur Ornithologie und war lange nur im kleinsten Kreis bekannt, wo man ihn als Fachmann für die Vogelwelt Neuguineas schätzte. Spätestens seit den 1980er Jahren haben beide Forscher jedoch ihren Elfenbeinturm verlassen und sind, für ihre Bücher mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet, einem Millionenpublikum bekannt geworden.

Eine ähnliche Erfolgsgeschichte schrieb auch der Jenenser Zoologe und Freidenker Ernst Haeckel (1834–1919), der sich auf der Basis der Evolutionslehre ebenfalls weit über sein Fachgebiet hinausgreifend und „aufs Ganze“ gehend 1899 anbot, alle „Welträtsel“ mit einem Schlag zu lösen. Wie einst der „deutsche Darwin“, so haben Wilson und Diamond, ebenso wie der Oxforder Sozialbiologe, Atheist und Bestseller-Autor Richard Dawkins (Jahrgang 1941), ihr naturwissenschaftliches Expertentum überaus geschickt vermarktet und sind zu Großdeutern menschlicher Entwicklung geworden – von der vorzeitlichen Entstehung des „dritten Schimpansen“ (Diamond) bis zum drohenden Untergang des homo faber durch selbstfabrizierten Wärmetod.

Drohender Untergang durch selbstfabrizierten Wärmetod

Man ist bislang gewohnt, in dieser Rolle allzuständiger Deuter, Warner und Sinnstifter, die ein großes Publikum beeinflussen, eher Philosophen, Theologen und andere Geisteswissenschaftler zu sehen, vom Schlage des „Untergangspropheten“ Oswald Spengler etwa. Mit solcher Meinungsführerschaft bei der Formatierung unseres Welt- und Selbstverständnisses, so der Siegener Linguist Clemens Knobloch in einer Skizze zur „neoevolutionistischen Kulturkritik“ (Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 161/11), sei es im 21. Jahrhundert vorbei.

Angesichts des möglichen ökologischen GAUs, geängstigt von Klimawandel, Artensterben, Energieknappheit, Überbevölkerung, hätten Naturwissenschaftler wie Wilson und Diamond Kultur- und Sozialwissenschaftler aus dem „Zentrum der gesellschaftlichen Selbstdeutungsprozesse“ verdrängt. Insofern habe ihr angelsächsischer „Neoevolutionismus“ im Fundus der „gesellschaftlichen Orientierungsgeschichten“ (Reinhart Koselleck) unbestreitbar inzwischen eine „Schlüsselstellung erobert“.

Durch dessen Brille betrachtet, bestätigten die jüngsten Erkenntnisse der Genetik die Theoreme Charles Darwins über Arterhaltung durch Variation und Selektion. Dank der Entzifferung des Genoms seien sie geradezu revitalisiert worden. Zusätzliche Plausibilität erfahre ein Weltbild, das die Komplexität der Naturphänomene auf „Selektion und Konkurrenz der nach Überlebens- und Fortpflanzungsvorteilen strebenden Individuen“ reduziert, durch die „Kampf ums Dasein“-Ideologie der „neoliberalen Machteliten“, mit der es wie bereits zu Darwins Zeiten „aufs schönste harmoniert“. Kein Wunder also, wenn der neodarwinistische Denkstil, multimedial verbreitet, zum, wie Knobloch übertreibend verkündet, „only game in town“ auf dem „Marktplatz der Weltanschauungen“ avanciert.

Sieht man einmal davon ab, daß sich die vom Neoevolutionismus beanspruchte „Weltbildkompetenz“ zum konkurrierenden Sinnangebot der Religionen selbstverständlich kritisch bis – etwa bei dem Haeckels Monismus noch übertrumpfenden Dawkins – militant atheistisch geriert und sich somit politisch einstellen muß, fällt seine eigenartig überparteiliche Akzeptanz auf.

Alle gesellschaftlichen und politischen Lager von rechts bis links hätten die Versatzstücke neodarwinistischer Kulturkritik im Angebot. Das liege daran, daß die beschworene ökologische Katastrophe und die letale Niederlage der Menschheit im Daseinskampf schließlich jeden treffen werde – unabhängig von seinen politischen Präferenzen. Zumindest in Deutschland, wäre hinzuzufügen, erklärt dies auch den Zulauf für eine Partei, die sich einst als „Bewegung“ der „Grünen“ zum Schutz der Umwelt konstituierte und sich nun, in der Mitte der Gesellschaft angekommen, als überparteiliche „Volkspartei neuen Typs“ (Die Zeit) inszeniert.

„Naturalisiertes Kulturkonzept“

Im Unterschied zu den tendenziell konservativen biologischen Kulturkritikern der Generation von Konrad Lorenz (1903–1989) eröffnet der Neodarwinismus keine Pforte ins vergangene Paradies menschlicher Existenz im Einklang mit der Natur. Der Mensch ist, wie noch für den kulturkritisch ambitionierten Molekularbiologen Erwin Chargaff, auch kein Störenfried im ansonsten harmonischen Ökosystem Erde, das ohne ihn auf Ewigkeit angelegt wäre. Der Mensch ist im „naturalisierten Kulturkonzept“ von Diamond und Dawkins vielmehr eine Spezies unter Millionen, die im Kampf überleben müssen.

Nur war der Mensch in diesem Kampf derart erfolgreich, daß nun sein Ausrottungsfeldzug gegen andere Arten in überschaubarer Zeit auf ihn selbst zurückschlagen könnte. Neodarwinianer wie der Brite John N. Gray („Politik der Apokalypse“, Stuttgart 2009) sehen darin nur die Konsequenz eines auf kurzfristige Daseinsbehauptung angelegten Kampfes aller gegen alle, so daß es den sicheren Untergang eben heroisch hinzunehmen gelte.

Die weitaus meisten von Grays Mitkämpfern an der Weltanschauungsfront vermitteln hingegen die optimistische Botschaft, daß es zum prognostizierten „Kollaps“ der Erdgeschichte nicht kommen werde, wenn der Mensch die neodarwinistische Predigt nachhaltiger, den Horizont einer Generation übersteigender Naturnutzung, die Mahnung zu Umkehr und Bescheidenheit zugunsten des Überlebens künftiger Generationen endlich beherzige.

Der den Zeitgeist dominierende Neoevolutionismus mündet mit solchen Rezepten in eine eher altmodisch wirkende „Verzichts- und Bescheidenheitsideologie“. Sein biologisches Axiom von der Konkurrenz der Individuen schlägt mit der eingeforderten universalistisch-kosmopolitischen Verpflichtung auf die menschliche Gemeinschaft sogar ins Gegenteil um.

Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik: www.uni-siegen.de/lili/

Charles Darwin und seine Entwicklungstheorie: Ein ewiger Kampf ums Dasein

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